1.
Einleitung
Unsere Welt
befindet sich gegenwartig in einer tiefen gesellschaftlichen Krise.
Politiker, Manager und Wissenschaftler suchen nach Auswegen aus dieser
Krise und nach einem Leitfaden fur die Gestaltung des 21. Jahrhundert.
Von vielen Menschen, besonders von Jungeren wird gefragt, ob die Resultate
der Forschungen uber Selbstorganisation weiterhelfen konnen, Auswege
aus den heute sichtbaren Sackgassen zu finden und gangbare Wege zur
Gestaltung einer lebenswerten Zukunft der Menschheit zu weisen. Ein
wichtiges Resultat der Wissenschafts-entwicklung im 20. Jahrhundert
ist die Theorie der Selbstorganisation, die von zwei bedeutenden wissenschaftlichen
Schulen in Brussel um Ilya Prigogine und in Stuttgart um Hermann Haken
entwickelt wurde. Wir sind der Aufassung, dass die Resultate dieser
Theorie und ihre Anwendung auf sozial-okonomische Prozesse einen wichtigen
Beitrag zur Entwicklung von Strategien fur die Zukunftsgestaltung leisten
konnen. 2. Lehren
aus der Geschichte der Evolution und gegenwartige Probleme
Wie geht es
weiter mit der Evolution auf unserem Erdball? Quo Vadis Evolutio? Schon
mehrfach wurde dem Autor dieses Aufsatzes besonders von jungen Menschen
vorgehalten, alle vernunftigen Wege in die Zukunft seien doch schon irreversibel
verbaut, man treibe nur noch in einen bereits sichtbaren Untergang.
Dem ist entgegenzuhalten, da? die Evolution von einmaliger Erfindungskraft
ist. Die Evolution hat sich schon millionen Male in scheinbar aussichtslosen
Situationen befunden und immer wieder herausgefunden. Dafur, da? sie auch
diesmal herausfindet, gibt es keine Garantie, wohl aber berechtigte Hoffnung,
wenn die Menschheit zum vernunftigen Verhalten zuruckfindet und nicht
gegensteuert. Ein schones Beispiel fur die Uberlebensfahigkeit evolutionsfahiger
Wesen ist die Ausbildung von Kiemen und Lungen durch die Wirbeltiere.
Wie kam es dazu, da? Lebewesen solche komplizierten, eigentlich doch recht
unhandlichen Gebilde entwickelten? Vor etwa 2-3 Milliarden Jahren war
die Erde von einer reduzierenden Atmosphare umgeben, in der Sauerstoff
nur in oxidischer Form vorkam. Die seinerzeit schon existierenden Mikrobionten
standen in einem harten Uberlebenskampf, denn Nahrung in Form spontan
entstandener organischer Stoffe wurde sehr knapp. Da verfielen einige
besonders "erfinderische" Mikrobionten auf den Ausweg, direkt
auf die Primarquelle wertvoller Energie, die Sonnenstrahlung zuruckzugreifen.
Die Photosynthese wurde "erfunden". Es kam zur Entstehung der
Pflanzen und der Heterotrophie. Ein Teil der Lebewesen lebte nach dem
neuen System, andere blieben noch beim alten System und eine dritte Klasse
lebte parasitar. Die pflanzlichen Systeme produzierten durch Photosynthese
flei?ig Sauerstoff, der sich in der Atmosphare immer mehr anreicherte,
die Gashulle der Erde nahm oxidierenden Charakter an. Nun war Sauerstoff
fur die nicht-pflanzlichen Lebewesen ein todliches Gas. Sie gerieten von
einer ihnen freundlichen Umwelt durch das "egoistische" Wirken
ihrer pflanzlichen Zeitgenossen in eine kontaminierte und schlie?lich
todliche Umwelt. Es gab nur einen Ausweg aus dieser Sackgasse: Durch Selbstorganisation
pa?ten sich die bedrohten Lebewesen an die "Verschmutzung" ihrer
Umwelt an. Ein besonders erfinderischer Teil von ihnen bildete Kiemen
und Lungen aus, die ein Uberleben in der neuen Umwelt sicherten. Die Menschen
stammen von diesen schopferischen Lebewesen ab. Unser Beispiel zeigt die
Schlusselrolle der Selbstorganisation im Evolutionsproze?.
Eine moderne Variante der obigen Geschichte konnte etwa folgenderma?en
lauten: Etwa 3-4 Milliarden Jahre nach der Entstehung des Lebens auf der
Erde (im 20. und 21. Jahrhundert nach der modernen Zeitrechnung) wurde
als Folge des hypertrophen Wachstums erneut wertvolle Energie und Rohstoffe
sehr knapp. Da verfiel die besonders "erfinderische Spezies Mensch"
auf den Ausweg, die durch Photosynthese angehauften Vorrate wertvoller
Energie in Form von Kohle sowie andere Energievorrate der Erde anzugreifen
und auszubeuten. Das Wachstum der Spezies Mensch und ihrer technischen
Umgebung explodierte und ubertraf in kurzester Zeit alles bisher dagewesene.
Die rucksichtslose Ausbeutung der durch andere Spezies (die Pflanzen)
in Milliarden von Jahren angelegten Energiereserven fuhrte jedoch in eine
neue globale Krise. Durch unkontrollierte Ausbeutung aller Ressourcen,
die Einschrankung der Existenzmoglichkeiten der anderen Spezies und besonders
die Verschmutzung der Umwelt mit Kohlendioxid und Abfallen brachte die
"erfinderische Spezies Mensch" alle Lebewesen der Erde in eine
existenzielle Gefahr. Ein besonders Problem waren die "Scheren"
im Verbrauch wertvoller Energie und verfugbarer Rohstoffe, die innerhalb
der Spezies Mensch aufgebaut wurden. Weniger als ein Funftel der Reprasentanten
dieser Spezies, in Landern lebend, die sich "hochentwickelt"
nannten, hatten das besonderes Privileg, ein Vielfaches des Durchschnittsverbrauches
an Energie und Rohstoffen zu beanspruchen. Das "privilegierte Funftel" nahm schlie?lich in Anspruch, mehr als das Funffache des Durchschnittes
am Anteil wertvoller Energie verbrauchen zu durfen und es nahm sich das
Recht, Kriege zur Durchsetzung dieser Privilegien zu fuhren. Das privilegierte
Funftel der Spezies Mensch baute zur Aufrechterhaltung seiner Privilegien
systematisch Niveau- und Verbrauchsscheren, wie Nord-Sud und West-Ost
auf. Langfristig erwiesen sich diese Scheren als als eine potentielle
Gefahr fur die globale politisch-okonomische Stabilitat. Auf der anderen
Seite waren die Grenzen der okologisch-okonomischen Stabilitat offenbar
schon langst erreicht. Das bewies ein allgemeines Waldsterben, das an
Brisanz nur noch durch ein drohendes Meeressterben ubertroffen wurde.
Die Wachstumsgesetze fur die wichtigsten Parameter wie Energie, Bevolkerungszahlen
usw., waren vom exponentiellen in ein hyperbolisches Regime ubergegangen
wie z.B. von Peschel, Mende und Albrecht gezeigt wurde. Eine Singularitat
nach 2010 zeichnete sich ab und der Ubergang zu einem neuen Wachstumsregime
mit Ubergang zum Sattigungsverhalten war unabdingbar geworden.
In dieser Situation sind wir heute. Die Existenz der "erfinderischen
Spezies Mensch" ist durch eigene Schuld bedroht. Gleichzeitig ist
aber auch die Existenz aller lebenden Spezies auf der Erde bedroht. Bevor
wir die denkbaren Auswege diskutieren, wollen wir mit einer moglichst
nuchternen naturwissenschaftlichen Analyse der Situation beginnen. Betrachten
wir zunachst nur die physikalischen Aspekte. Harte Schranken fur die weitere
Evolution ergeben sich aus physikalischer Sicht insbesondere aus der Begrenztheit
der verfugbaren Strome von wertvoller Energie bzw. von Entropie, aus der
zunehmenden Belastung der Umwelt mit Abfallstoffen und aus den Grenzen
der Stabilitat des okologisch-okonomischen Gesamtsystems Erde. Der Strom
wertvoller Sonnenenergie, welcher der Erde im Durchschnitt zuflie?t, betragt
etwa 230 Watt/qm, die gleiche Menge Energiestrom flie?t in geringerer
Qualitat (niedrigere Strahlungstemperatur) wieder in den Weltraum zuruck.
Dieser Strom treibt fast alles Geschehen der Selbstorganisation auf unserem
Planeten an, vom Wetter bis zur Photosynthese; in diesem Zusammenhang
wurde von uns der Begriff Photonenmuhle gepragt. Der durch die Sonnen-Photonen
transportierte Energiestrom entspricht auch einem Entropiestrom, einem
Exportstrom von etwa 1 Watt/Kelvin, bezogen auf den Quadratmeter Erdoberflache.
Wenn auf lange Sicht mehr als 1 Watt/Kelvin Entropie pro Quadratmeter
Erdoberflache produziert wird, so wird "Entropie-Mull" angehauft.
Hier liegen die letzten, physikalisch verbindlichen Grenzen des Wachstums.
Wenn erst alle "Brennstoffe" verbraucht sein werden, so wird
nicht mehr als 230 Watt wertvoller Sonnenenergie pro Quadratmeter als
Antrieb zur Verfugung stehen und zwar fur alle meteorologischen, biologischen,
okologischen und okonomischen Prozesse zusammengenommen. Nur etwa ein
Funftausendstel dieses Stromes kommt heute der Photosynthese zugute, d.h.
weniger als 1/10 Watt/qm. Wenn jeder der etwa 4 Milliarden Erdenburger
nur einen Strom wertvoller Energie von 1 kW beanspruchen wurde, ergaben
sich pro qm unseres 12000 km dicken Erdballs schon etwa 1/10 Watt Energiestrom.
das entspricht etwa dem, was die Photosynthese zu leisten vermag. Wer
taglich zwei bis drei Stunden Auto mit 100 kW Leistung fahrt, den Abend
am Fernseher verbringt und noch einige andere elektrische Gerate betreibt,
kann es leicht auf 200-300 kWh pro Tag bringen, Damit erreicht er im Durchschnitt
10 kW Verbrauch an wertvoller Energie und uberzieht sein privates Energiekonto.
Er ist ein Schmarotzer der Evolution und lebt auf Kosten anderer Lebewesen.
Ein Burger von Europa hat heute im Durchschnitt eine Verbrauchsleistung
von fast 10 kW, ein Burger der USA liegt noch hoher im Verbrauch. Hier
sind Einschrankungen unumganglich, ein weiteres unbegrenztes Wachstum
im Verbrauch wertvoller Energie ist schlechthin unmoglich. Nach unserer
Auffassung konnte ein weltweiter Verbrauch von mehr als 10 kW pro Burger
der Erde zu einem allgemeinen Kollaps fuhren. Die zulassige obere Grenze
durfte bei unter 10 kW liegen, sie ist von den Burgern der industriell
entwickelten Staaten, dem privilegierten Funftel schon erreicht bzw. sogar
schon uberschritten worden.
Ein besonderes Problem ist die Anonymitat der Wirkungen. Stellen wir uns
einen normalen Burger, dem privilegierten Funftel angehorend, sagen wir
einen stadtischen Angestellten, an einem normalen Arbeitstag vor. Er uberzieht
fast taglich sein Energiekonto, aber er kann die Folgen nicht direkt sehen.
Vielleicht hat er einem Kind in der dritten Welt seine Lebensgrundlagen
entzogen, vielleicht ist sogar sein eigener Urenkel betroffen. Aber der
Angestellte, der sich "schuldig" gemacht hat, wei? das nicht.
Er kann, wegen der Komplexitat der kausalen Beziehungen in unserer modernen
Welt, auch bei guter Absicht die Spatfolgen kaum ubersehen. Vielleicht
hat er sogar unbewu?t indirekt Menschen die Lebensgrundlagen entzogen.
Aber die Auswirkungen seines "Deliktes" liegen ja erst in der
Zukunft und sein Verhalten widerspricht keinem der gultigen Gesetze. So
lebt er weiter wie bisher und hat nur ab und zu, nach einem kritischen
Kommentar in den Medien oder nach dem Lesen eines Sachbuches, ein schlechtes
Gewissen.
Ein besonderes
Problem ist zur Zeit die Belastung des Energiehaushaltes und des okologisch-okonomischen
Gleichgewichtes durch den Verkehr. In der Tat ist das standige Verfrachten
von Personen und Gutern mit Autos und Flugzeugen, immer mehr, immer schneller,
ein ma?loser Raubbau an fossilen Energietragern und der Qualitat unserer
Luft. Naturlich tragt in gewissem Umfange die gewachsenen Mobilitat auch
zur Erhohung unserer Lebensqualitat bei, z.B. durch die Moglichkeit, im
Urlaub fremde Lander und ihre Kultur kennenzulernen. Es gibt aber auch
eine total unsinnige Mobilitat, etwa wenn Joghurtbecher und Bierflaschen
uber viele Hunderte von Kilometern uber verstopfte Autobahnen zum Verbraucher
befordert werden, obwohl gleich nebenan Joghurt und Bier produziert wird.
Ein ebenso gro?es Problem sind die Riesenmengen von Verpackungsmaterialien,
die im Mull landen. Eine enorme Belastung fur den Energiehaushalt und
die Umwelt ist auch die Unmenge Papier, die von der modernen Gesellschaft
beschrieben und zum gro?en Teil sogar ungelesen fortgeworfen wird. Damit
meinen wir besonders den Reklamewust und die Masse von Yellow-Press-,
Sex- und anderen unnutzen Produkten. Wir meinen aber auch den immer weiter
in unsinniger Weise ansteigenden amtlichen Papierkrieg. Die gro?te "Sunde" wider alle Vernunft sind naturlich die immer wieder aufflackernden kriegerischen
Auseinandersetzungen zwischen Volkern und Terrorakte. Wer fragt schon
nach Energieverschwendung, Luftverschmutzung und Verseuchung von Erde
und Wasser, wenn egoistische Ziele und Mammut-Gewinne mit Bomben und Panzern
verfolgt werden?
Die gutgemeinten Versuche, die Verschwendung von Energie und die gro?e
Belastung der Umwelt durch Appelle an die Vernunft zu reduzieren, haben
bisher nicht funktioniert. Die gegenwartige moderne Gesellschaft hat offenbar
ihre eigene zwanghafte Dynamik, und Vergeudung all dessen, was verfugbar
ist, und Verscharfung der Widerspruche gehort offenbar bisher untrennbar
dazu. Welche neuen Wege sind vorstellbar? Eine Moglichkeit, die sich bereits
abzeichnet, besteht darin, da? in Zukunft durch Nutzung von High-Tech-Kommunikation
viele Arbeiten zu Hause ausgefuhrt werden konnen. Die taglichen Personentransporte
von und zur Arbeit sowie zu Konferenzen rund um die Welt konnten dann
stark reduziert werden. Neue Losungen konnten auch darin bestehen, da?
durch neue Technologien (u.a. auch Gentechnologien) der industrielle Energie-Verbrauch
zur Herstellung von Waren oder Verwertung von Mull auf einen Bruchteil
zusammenfallt. Neue Vor-Ort-Technologien der Herstellung von Nahrungs-
und Gebrauchs-Gutern konnten sichern, da? die unsinnigen Transporte von
Gutern uber uberlastete Stra?en reduziert werden. Neue Verfahren des Energie-
und Warme-Transports konnten bewirken, da? auf dem Globus die Verschwendung
von fossilen Brennstoffen fur Heizzwecke erheblich eingeschrankt wird.
Alle diese Ziele liegen hinter einem hohen Potentialwall, sie erfordern
Leistungen der Forschung und Entwicklung und Investitionen und naturlich
bergen die oben angedeuteten Moglichkeiten auch Risiken und Gefahren.
Aber schlie?lich war Evolution immer ein Tasten hinein in einen dunklen
Wald. Den Risiken neuer Losungswege auszuweichen, bedeutet Stagnation,
und das ist "kurzfristig die kluge Taktik, aber langfristig die todliche
Strategie". Wir mochten auch zu bedenken geben, da? die Dinge durchaus
nicht immer auf den ersten Blick hin beurteilt werden konnen. Denken wir
an den Satz aus dem "Faust": "Ich bin ein Teil von jener
Kraft, die stets das Bose will und stets das Gute schafft!" Bisher
hat die Evolution durch unerwartete Wendungen stets neue Losungen gefunden,
sie wird auch fur unsere Zukunft Losungswege bieten. Es kommt nur darauf
an, da? wir sie erkennen und durchsetzen.
Noch dramatischer als den steigenden Energieverbrauch sehen wir die standige
Vergiftung der Atmosphare und des Ozeans durch Abfallstoffe, die sowohl
unsere Lebensgrundlage (Nahrungsketten, Primarproduktion) als auch unmittelbar
uns selbst (Allergien, Krebs, Baumsterben) bereits jetzt schadigt. Geschlossene
Produktionszyklen, die Rohstoffe, Wasser und Luft nur intern umwalzen,
aber keine Schadstoffe freisetzen, sind hier die einzige Losung. Wir denken
an Motoren, die Wasserstoff verbrennen, an Stadte, die Waschmittel aus
dem Abwasser filtern usw.. Diese Losungen sind, auf dem heutigen Stand
der Technik, Energiefresser. Wo liegt also das gro?ere Problem, bei der
Energie oder der Umweltbelastung? Wahrscheinlich ist das zweite Problem
das noch schwierigere. Auf jeden Fall wurden neue Wege bei der Gewinnung
wertvoller Energieformen auch neue Losungen fur das Vermeiden von Umweltbelastungen
erschlie?en.
Besonders dringend ist auch das Problem des Bevolkerungswachstums auf
unserem Planeten. Wir beobachten, da? es in dieser Frage keinerlei Konsensus
gibt, da? Weltorganisationen und die meisten Staaten ratlos zusehen und
da? erste Ansatze auf die Kritik und den Widerstand machtiger Institutionen
sto?en. Das Verhindern vernunftiger Losungen bedeutet moglicherweise millionenfaches
Sterben in kunftigen Generationen.
3. Gebote fur die Gestaltung der Zukunft aus der Sicht der Theorie
Selbstorganisation
Der bekannt
Zukunftsforscher Ossip Flechtheim hat die Frage aufgeworfen: "Ist
die Zukunft noch zu retten?". Flechtheim analysiert aus seiner Sicht
die moglichen, wahrscheinlichen und wunschenswerten "Zukunfte" der menschlichen Gesellschaft und ihrer naturlichen Umgebung auf unserem
Planeten. Wie wir gesehen haben, stehen die von Flechtheim aufgeworfenen
Fragen, im Zusammenhang mit Grundfragen der Selbstorganisation und Evolution.
Die bestehenden Disproportionen sind das Resultat einer ungebremsten Selbstorganisation
und einer unkontrollierten Instabilitat, fur die hauptsachlich der Mensch
und die von ihm geschaffenen technischen und okonomischen Systeme verantwortlich
sind. Im letzen Abschnitt haben wir bereits einige Ideen skizziert, wie
man Abhilfe schaffen konnte. Der entscheidende Wandel mu? darin bestehen,
da? sich der Erfindungsreichtum der Evolution des Menschen nicht mehr
auf die Optimierung des kurzfristigen Komforts sondern auf das Finden
von langgfristigen Auswegen aus der Krise richtet. Dafur gibt es allerdings,
wie die Geschichte der Evolution lehrt, keinen Konigsweg. Die uberlebensichernden
Wege in die Zukunft waren niemals vorprogrammiert, sie mussen auch in
der gegenwartigen Krise in einem langwierigen adaptiven Suchproze? aus
einer riesigen Diversitat potentieller Moglichkeiten erst gefunden werden.
Immerhin sollten wir auch nicht in den Fehler verfallen, die Situation
als hoffnungslos darzustellen.
Eine gro?e Chance besteht darin, Theorie der Selbstorganisation, die Theorie
komplexer Systeme und die Chaosforschung mit heranzuziehen, um Wege zur
Gestaltung einer lebenswerten Zukunft der Menschheit zu weisen. Daran
andert auch nichts, da? die bestehenden Disproportionen das Resultat einer
ungebremsten Selbstorganisation und unkontrollierter Instabilitaten sind.
Nach unserer Auffassung konnen Instabilitaten und der teilweise chaotische
Charakter der Entwicklung auch eine positive Rolle spielen. Einige Gedanken
dazu wurden bereits dargelegt.
Unser Vorschlag einer Strategie fur die "Rettung der Zukunft" lautet: Eingeschrankte Selbstorganisation und Diversitat in Verbindung
mit Toleranz sind Gebote fur die Gestaltung der okologisch-okonomischen
und sozio-kulturellen Zukunft. In vereinfachter Form lauten die Gebote,
die das Resultat unserer Uberlegungen sind:
1. Gebot: Jedermann ist verpflichtet, sich an einen okologisch vertretbaren
Durchschnitt des Verbrauches wertvoller Energie und der Produktion von
Entropie zu halten. Die Uberschreitung eines okologisch vertretbaren Durchschnitts
ist eine "Todsunde". Sie ist von der Gesellschaft mit progressiv
steigenden hohen Kosten zu belegen.
2. Gebot: Jedermann
ist verpflichtet, die naturliche Umwelt zu erhalten und zu schutzen. Jede
okologisch unvertretbare Umweltbelastung ist eine existenz-bedrohende "Todsunde" und ist von der Gesellschaft ebenfalls mit hohen
Kosten oder Strafen zu belegen.
3. Gebot: Jedermann
ist verpflichtet, der Sicherung der Lebensqualitat kunftiger Generationen
hochste Prioritat zu geben. Das Wachstum der Weltbevolkerung und ihres
gesamten Umsatzes an Energie und Rohstoffen mu? auf freiwilliger Basis
auf das energetisch-okonomisch Mogliche und okologisch Vertragliche beschrankt
werden.
4. Gebot: Jedermann
ist verpflichtet, auf der Basis beschrankter thermodynamischer Strome,
Diversitat in jeder Hinsicht, beginnend von der Vielfalt der biologischen
Arten bis hin zur Vielfalt im ethnischen, sprachlichen, sozialen, geistigen
und kulturellen Bereich zu fordern. Egoistische Expansion und Beschrankung
von Diversitat ist durch die Gesellschaft zu bestrafen.
5. Gebot: Jedermann ist verpflichtet, Kreativitat, Innovativitat und Suche
nach neuen Losungen in jeder Hinsicht zu fordern. Intoleranz, welche die
Kreativitat der Anderen einschrankt, ist eine "Sunde". Gesetzliche
Regelungen und okonomische Mechanismen, welche die Innovativitat der Gesellschaft
einschranken, mussen durch positive Mechanismen ersetz werden.
Die soweit
formulierten Gebote tragen weitgehend den Charalter moralischer Imperative,
sie sind demzufolge ohne erganzende Gesetze oder Vorschriften ziemlich
unverbindlich. Die ersten drei der obigen Gebote haben mit der Beschranktheit
der naturlichen Ressourcen zu tun. Die folgenden zwei Gebote sollen trotz
der notwendigen Beschrankungen eine Vielfalt von moglichen Wegen in die
Zukunft und entsprechenden Losungsmoglichkeiten fur Probleme offenhalten.
Eine Kernfrage
ist, wer wird die Einhaltung solcher "Gebote" kontrollieren
und welche Gremien sind fur die Beschlu?fassung uber Regeln mit Gesetzescharakter
zustandig. Schwer vorstellbar, aber immerhin denkbar ist, da? internationale
Organisationen wie die UNO solche Aufgaben ubernehmen. Das ware dem globalen
Charakter vieler Probleme angemessen. Insbesondere sind das Artenproblem,
das Klimaproblem und das Problem einer gerechteren Verteilung der Ressourcen
unseres Planeten nur im globalen Ma?stab losbar. Nehmen wir als ein Beispiel
die Ressourcenverteilung. Heute leben in den hoch entwickelten Industriestaaten
etwa 20 Prozent der Weltbevolkerung. Das privilegierte Funftel nimmt derzeit
etwa 80 Prozent der Strome von Rohstoffen und wertvoller Energie in Anspruch.
Ein hypothetischer Beobachter, der unsere Erde von einem Standpunkt au?erhalb
betrachtet, wurde dieses Verhaltnis als sehr ungerecht und als langfristig
instabil, ansehen. Er wurde dazu raten, diese extremen Unterschiede gezielt
abzubauen und einen stabileren, gerechteren Zustand anzustreben. Wie wir
wissen, steigen aber zur Zeit die Gradienten eher noch an, als da? sie
abgebaut wurden. Man stelle sich vor, innerhalb eines Landes waren solche
Gradienten vorhanden, langfristig waren extreme Spannungen und Ausandersetzungen
programmiert. Offenbar werden die reichen 20 Prozent der Weltbevolkerung
ihre Privilegien nicht ohne weiteres freiwillig aufgeben. Aber auch im
globalen Ma?stab fuhren so gro?e Gradienten zu Instabilitaten, die irgendwann
in eine neue Ordnung umschlagen werden. Vorboten dieses unvermeidlichen
Umschlagens sind die ansteigenden Wanderungsbewegungen, und die zum Teil
feindlichen Reaktionen in den Immigrationslandern, die wir heute beobachten.
Die unterprivilegierte Mehrheit versucht individuell, d.h. durch Immigration
in ein privilegiertes Land den Sprung in das privilegierte Funftel zu
schaffen.
Ob das Umschlagen
in eine gerechtere okonomische Weltordnung revolutionar oder evolutionar
erfolgen wird, vermag niemand vorherzusagen. Wunschenswert ware auf jeden
Fall eine friedliche Losung durch eine gerechtere globale okonomische
Politik, welche die gefahrlichen Gradienten langsam abbaut. Aus der Sicht
einer globalen Synergetik sind alle Mechanismen positiv zu bewerten, welche
die Strome von Rohstoff und Energie abbremsen und Transporte teurer machen.
Das hort sich einfach an, durfte aber im globalen Ma?stab nur sehr schwer
durchsetzbar sein. Schon seit 1971 hat bekanntlich der "Club of Rome"
die "Grenzen des Wachstums" verkundet und verlangt, Energie
und Rohstoffe teurer und menschliche Arbeitskraft kostengunstiger zu machen.
Viele der angesprochenen Probleme konnen zunachst im Ma?stab einzelner
Lander angepackt werden. So konnte man an spezielle Okosteuern denken,
die vom Staat auf Energie- und Rohstoffverbrauch sowie Transporte und
Umweltverschmutzung erhoben werden. Zum Ausgleich konnte der Staat die
Abgaben fur die Beschaftigung von Arbeitskraften senken. Aus der Sicht
einer allgemeinen Synergetik der gesellschaftlichen Prozesse wurden solche
Schritte, wenn sie ma?voll angegangen werden, mit einiger Sicherheit eine
positive Wirkung erzielen.
4. Vorschlage
synergetischer Strategien
Wie besonders
Hermann Haken gezeigt hat, haben komplexe Systeme in der Regel nur wenige
Ordnungsparameter, an denen eine Steuerung anzusetzen hat. Der Versuch
der bewu?ten Steuerung sollte moglichst einfache Mechanismen verwenden,
um nicht riskante Instabilitaten auszulosen. Es darf nicht ubersehen werden,
da? Instabilitaten unter Umstanden dramatische Konsequenzen haben konnten,
die nur begrenzt vorhersagbar sind. Mit jeder Steuerung gesellschaftlicher
Prozesse sind Risiken verbunden. Eine Ubersteuerung kann katastrophale
Konsequenzen haben, wie uns der Zusammenbruch des Gesellschaftssystems
in Osteuropa gerade demonstriert hat. Aus diesem Grunde ist auch von Steuerversuchen
durch ein "Uberma? von Staat", d.h. durch eine Menge von Leitungsebenen,
durch komplizierte Regelwerke und eine Fulle burokratischer Ma?nahmen,
dringend abzuraten.
Wegen der Besonderheiten komplexer Systeme und ihrer stets gefahrdeten
Stabilitat ist eine vorsichtige Steuerung anzuraten. Statt dramatischer
Eingriffe ist es auf jeden Fall viel risikoloser, ein richtiges Verhalten
durch ganz einfache Mechanismen zu erreichen. Auf jeden Fall mussen die
neu zu schaffenden Regelmechanismen an den Ordnungsparametern angreifen.
Wie wir gezeigt haben, sind Werte die zentralen Ordnungsparameter in biologischen
und gesellschaftlichen Systemen. Der Ansatz, uber Kosten, Steuern und
moralische Werte Einflu? auf das Verhalten zu nehmen, scheint uns daher
am aussichtsreichsten zu sein. Wir wollen damit nicht den Eindruck erwecken,
da? die Losungen der Probleme heute schon bekannt sind. Um Losungen zu
finden, die einfach und effektiv sind, sind interdisziplinare Forschungsarbeiten
erforderlich. Weiterhin sind zweifellos Experimente notwendig. Man mu?
den Mut zu Experimenten mit neuen Regelmechanismen aufbringen und sollte
erfolglose Versuche nicht vorschnell abbrechen. Es sollte niemals vergessen
werden, da? es hier nicht um spezielle Interessen, sondern um das Uberleben
des Menschen und seiner Umwelt auf der Erde geht.
So wie in der Ur- und Fruhgeschichte der Menschheit in einem schopferischen
Proze? die Verhaltensregeln gefunden wurden, die ein Uberleben als Gruppe,
Familie, Dorf, Stadt oder Staat ermoglichten, so ist auch heute eine gewaltige
schopferische Anstrengung der Menschheit erforderlich. Hier ist besonders
die junge Generation gefragt, von der wir hoffen, da? sie neue Ideen entwickeln
wird und verkrustete Strukturen aufzubrechen in der Lage ist.
Fassen wir die wichtigsten Ideen noch einmal zusammen: Die Gestaltung
einer lebenswerten Zukunft fur unsere Kinder, Enkel und Urenkel, erfordert
neue Formen der Selbstorganisation des menschlichen Zusammenlebens und
der Wechselwirkung mit der Natur. Wachstum ist von der quantitativen Ebene
auf die qualitative zu verlagern, von sinnloser Verschwendung der Ressourcen
hin zur Entwicklung von Diversitat und Innovativitat. Die gesellschaftliche
Selbstorganisation erfordert Einschrankungen durch Regelmechanismen, welche
an den Ordnungsparametern angreifen. Auch die notwendigen und unvermeidlichen
Instabilitaten erfordern eine gewisse Steuerung. Zukunft durch eingeschrankte
Selbstorganisation und kontrollierte Instabilitat hei?t Diversitat der
Arten und Bewegungsformen, Denk- und Lebensweisen auf dem Hintergrund
einer Selbstbeschrankung der thermodynamischen Kosten und der Belastung
der naturlichen Umwelt, hei?t Kreativitat und Toleranz, hei?t Einhaltung
neuer moralischer Gebote und staatlicher bzw. globaler Gesetze.
Die uberlebensichernden Wege in die Zukunft sind nicht vorprogrammiert,
sie mussen in einem langwierigen adaptiven Suchproze? aus einer riesigen
Diversitat potentieller Moglichkeiten, durch Bewertung und Optimierung
erst gefunden werden. Mit anderen Worten: Aussichtsreiche Strategien fur
die Gestaltung "wunschenwerte Zukunfte" erfordern:
- eine eingeschrankte Selbstorganisation und kontrollierte Instabilitat,
- Diversitat der Arten und Bewegungsformen, Denk- und Lebensweisen,
- Selbstbeschrankung der thermodynamischen und okologischen Kosten,
- Kreativitat, Innovativitat und Toleranz,
- Rucksicht auf die Interessen kunftiger Generationen.
Abschlie?end mu? bemerkt werden, da? die meisten der hier diskutierten
Probleme von endgultigen Losungen noch weit entfernt sind. Man darf aber
hoffen, da? durch einen breiten gesellschaftlichen Konsens, durch interdisziplinare
Zusammenarbeit mehrerer Wissenschaften und vieler Lander und insbesondere
durch einen schopferischen Beitrag der jungen Generation entscheidende
Fortschritte erzielt werden konnen. Wegen der Besonderheiten komplexer
Systeme ist es sicher grundsatzlich unmoglich, die Zukunft unseres Planetes
zu steuern und zu planen. Die Zukunft dem Selbstlauf zu uberlassen, ware
allerdings unverantwortlich gegenuber unseren Kindern, Enkeln und Urenkeln.
Ein moralischer Imperativ verpflichtet uns, auf der Basis der verfugbaren
Kenntnisse, an der Gestaltung der Zukunft unseres Planeten aktiv mitzuwirken,
denn wie der schweizer Schriftsteller Durrenmatt einmal sagte:
"Was alle angeht, konnen nur alle losen"
Literatur:
W. Ebeling: Strukturbildung bei irreversiblen Prozessen, Teubner-Verlag
Leipzig 1976; Russ. Ubers. Obrasovanie Struktur pri Neobratimykh Prozessach,
Mir Moskva 1979.
W. Ebeling, A. Engel, R. Feistel: Physik der Evolutionsprozesse, Akademie-verlag
Berlin 1990; Fizika Prozessov Evoljuzii - Syergeticheskii Podchod,
URSS Moskva 2001.
W. Ebeling, R. Feistel: Chaos und Kosmaos - Proinzipien der Evolution,
Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg - Berlin - Oxford 1994;
Russ. Ubers. Izd. RXD, Moskva - Ishevsk (in press).
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