Die
Selbstorganisationsgesellschaft
Hermann Haken Institut fur Theoretische Physik, Zentrum fur Synergetik Pfaffenwaldring 57/4, D-70550 Stuttgart |
Einleitung Das vergangene
Jahrhundert wird oft als das der Industriegesellschaft bezeichnet. Zu
ihrer Entwicklung trugen zum einen fundamentale Erfindungen bei, dann
aber auch neuartige Produktionsmethoden, wie das Flie? band, und die extreme
Arbeitsteilung im Sinne des Taylorismus. Zu Ende jenes Jahrhunderts zeichnete
sich bereits die Formierung der Informationsgesellschaft ab. Das Bild vom Menschen Wenn der moderne
Mensch sich in den Mittelpunkt des sozialen Geschehens stellt, so muss
er wohl ein Bild von sich selbst besitzen. Aber hier entstehen bereits
die ersten Schwierigkeiten, einen allgemeinen Konsensus hieruber wird
man kaum finden. Sehen wir uns nur die verschiedenen Blickrichtungen der
Naturwissenschaftler einerseits und der Soziologen andererseits an, so
erkennen diese ganz verschiedene Bestimmungsfaktoren fur menschliches
Verhalten, die einen in der Genetik, die anderen in der Umwelt und in
der Tradierung von Werten. Wir sind mit Postulaten konfrontiert, wie die,
dass der Mensch einen freien Willen besitzt, dass er nach Idealen lebt;
wir sprechen von der Wurde des Menschen, davon, dass die Wurde des Menschen
unantastbar ist. Das System: Synergetik Wer oder was
ist nun in der Lage, Ordnung in das System bestehend aus Individuen zu
bringen? Blickt man in die Geschichte, so ist die Antwort zunachst einfach:
Es gab fast stets Herrscher der verschiedensten Couleur, oder in anderen
Worten, die Menschen richteten sich nach einem Steuermann. Blicken wir
aber in die belebte Natur, so erkennen wir, dass es in den Organismen
keinen Steuermann fur deren Wachstum und Verhalten gibt. Ja, auch in Gemeinschaften
von Organismen, angefangen von Bakterienkolonien bis hin zu vielen Tierpopulationen
mit ihren ausgepragten Netzwerken auf allen moglichen Stufen, ist keinerlei
Steuermann zu erkennen. Auch etwas, was etwa einem demokratischen Prinzip
entsprache, lasst sich kaum finden. Sicher gibt es in einigen Tierpopulationen,
etwa den Primaten, hierarchische Strukturen, aber im Gro?en und Ganzen
fehlen derartige Organisationsformen in weiten Teilen des Tierreichs und
auch in der Pflanzenwelt. Es lohnt sich also, einen Blick auf Organisationsprinzipien
der Natur zu werfen, die nicht auf hierarchische Organisationsformen hinaus
laufen: Diese Organisationsformen, bei denen keine ordnende Hand, kein
Steuermann zu erkennen ist, werden als Selbstorganisation bezeichnet.
In den letzten Jahrzehnten ist ein umfangreiches Gebiet entstanden, das
diese Fragen interdisziplinar von einem einheitlichen Gesichtspunkt aus
behandelt, die Synergetik, die Lehre vom Zusammenwirken. Wie wir in diesem
Artikel sehen werden, sind deren Ergebnisse von unmittelbarer Relevanz
fur gesellschaftliche Prozesse, obwohl die ursprunglich aufgedeckten Gesetzma?igkeiten
sich auf Vorgange in der unbelebten Natur wie auch auf biologische Prozesse
bezogen. Hierbei verleiht die Selbstorganisation den Systemen Fahigkeiten,
die ansonsten einen gro"sen Arbeits- und Steuerungsaufwand erfordern
wurden. Einige Beispiele mogen dies erlautern: Wird eine Flussigkeit,
etwa Ol, gleichma?ig von unten erhitzt, so bilden sich von einem bestimmten
Erhitzungsgrad an bienenwabenartige Bewegungsmuster aus. Entstehen diese,
so wird der Warmetransport von unten nach oben schlagartig erhoht. In
diesem Sinne wird das System also effizienter. Von selbst sich ordnende
Vogelschwarme senken durch ihre Formation den Energieverbrauch. Fischschwarme
wirken auf Rauber abschreckend und schutzen sich dadurch. Schlie?lich,
das menschliche Gehirn wird nicht nur durch die Gene bestimmt, sondern
in seinen Verknupfungen ganz wesentlich durch Erfahrungen im Laufe der
menschlichen Entwicklung. Sollten also hier zu Grunde liegende Prinzipien
nicht auch fur den ja hochst begabten Menschen von Nutzen sein und z.B.
die Planwirtschaft alt aussehen lassen? Von der Organisation zur Selbstorganisation Um die Aspekte
der Selbstorganisationsgesellschaft naher zu beleuchten, erscheint es
nutzlich, an ihr exaktes Gegenteil zu erinnern, die sowjetische Planwirtschaft.
In ihr gab es kein Privateigentum und in ihr war alles staatlich. Alle
Burger waren Staatsangestellte, von der Toilettenfrau bis zum Direktor
eines gro?en Kombinats. Es gab keinerlei private Vereine, keine privaten
Clubs, selbst wenn diese nur harmlosen Basteleien nachgehen wollten. Das
Gesundheitswesen war staatlich, die Firmen naturlich ohnehin, der Sauglingshort
bis hin zum Altersheim. Privatinitiative war nicht nur verpont, sondern
sogar suspekt. Alles war Teil einer riesigen Planwirtschaft und das System
fuhrte sich selbst ad absurdum. Der bedeutende Nationalokonom Friedrich
August von Hayek hatte diesen Zusammenbruch schon fruhzeitig prophezeit.
Er hatte erkannt, dass ein komplexes System, wie die Wirtschaft oder ein
Staat, der verteilten Intelligenz der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft
bedarf und nicht von einem Zentralorgan gesteuert werden kann. Die Vorausberechenbarbeit
der Ablaufe ist einfach unmoglich. Im Ostblock setzte sich schlie?lich
die Erkenntnis durch, dass hier bei den Informationsflussen von unteren
Ebenen zum zentralen Planungszentrum ein fur das System todlicher Informationsflaschenhals
entsteht. So ist es nicht verwunderlich, dass fuhrende Institutionen,
wie etwa die Hochschule von St. Gallen, auch fur Firmen das Konzept der
Selbstorganisation progagierten und sich dieses Konzept auf allen Ebenen
durchzusetzen beginnt.
Wie weit konnen
wir bereits heute von der Verwirklichung einer Selbstorganisationsgesellschaft
sprechen? Diese ist zweifellos von einer fortschreitenden Entstaatlichung
gekennzeichnet. Ein ehemaliger Sowjetburger wird wahrscheinlich feststellen,
dass wir schon auf diesem Wege enorm weit fortgeschritten sind, ein Westdeutscher,
dass hier sich schon einiges bewegt hat, wahrend der Amerikaner, seien
es Nord- oder Sudamerikaner, bemerken wird, dass in seinem Lande vieles
schon verwirklicht worden ist. Bei den Verkehrsmitteln strebt die Bahn
eine vollige Privatisierung an, ebenso der Flugverkehr. Auf die Dauer
werden sich vermutlich auch Autobahnen, einschlie?lich Brucken und Tunnel,
bzgl. Bau, Unterhalt und Geb\"uhren dieser Entwicklung anschlie"sen.
Hierbei kommen allerdings Selbstorganisationsprinzipien nur bedingt zum
Tragen. Kostensenkung durch Konkurrenz zwischen verschiedenen Unternehmen
kann, wie sich schon durch einfache theoretische Uberlegungen der Synergetik
zeigen lasst, wie es ja auch die Praxis beweist, zum Ruin von einzelnen
Unternehmen fuhren, ja es kann zur Monopolisierung kommen. Trotzdem beobachten
wir bereits jetzt selbst beim Schienenverkehr das Auftreten zunachst miteinander
kooperierender spater aber auch konkurrierender Eisenbahngesellschaften.
Bei der Energieversorgung wird die Rolle der Gemeinde und des Staates
dahin schwinden, sei es bei der Wasserkraft, Atomkraft, Kohle und Ol ebenso
auch beim Betrieb der entsprechenden Netze Elektrizitat, Wasser, Warme,
Gas. Die Ubergabe, etwa der Entsorgung, in private Hande, auf der Ebene
von Gemeinden oder des Staates ist in vollem Gange. Die Entstaatlichung
hat schon langst die verschiedenen Nachrichtennetzwerke erfasst oder ist
dabei, diese zu erfassen, sei es bei Telefon, Fax, Internet, Postdienste
fur Briefe, Packchen und Pakete, wo die verschiedenen Zustelldienste zum
alltaglichen Bild unserer Stadte gehoren, wie dies auch schon langst beim
Gutertransport durch Speditionen der Fall war. Bald werden auch die letzten
staatlichen Anteile an Industrieunternehmen veraussert sein.
Auf Grund der
neuen technischen, medizinischen und wissenschaftlichen Moglichkeiten
streben wir nach neuen Freiraumen, die durch weniger oder keine Kontrollen
gekennzeichnet sind. Dabei mussen wir uns aber bewusst sein, dass diese
Moglichkeiten auf unsere Gesellschaft als neue au?ere Bedingungen, im
Sinne der Synergetik also als geanderte Kontrollparameter, wirken. Dabei
treten Instabilitaten auf - im soziologischen Sinne Verunsicherungen -
die neue Losungen erfordern. Hierbei mussen wir die Ergebnisse der Synergetik
zur Kenntnis nehmen, dass die neuen Losungen keineswegs eindeutig vorgegeben
sind. Oft sind mehrere Losungen moglich, wobei die eine die andere ausschlie?t.
Beleuchten wir dies anhand des Phanomens der sogenannten Konfliktverlagerung.
Ein kleines Beispiel moge dieses erhellen: Wenn ein Paar heiratet, so
entsteht die Frage, welchen Namen das Paar annimmt. Auf der kollektiven
Ebene hat dies fruher der Gesetzgeber geregelt, indem er vorschrieb, dass
der Name des Mannes nun der Familienname wird. Der Gesetzgeber kann naturlich
darauf auch verzichten und somit den Konflikt der Namensgebung auf das
Paar selbst ubertragen. Bei fast all den Prozessen, die wir heutzutage
beobachten, geschieht diese Konfliktverlagerung und zwar in Richtung von
der kollektiven, d.h. staatlichen Ebene, auf die private Sphare. Mit der
Schaffung von immer mehr privaten Entscheidungsmoglichkeiten geht zugleich,
so das Argument der Okonomen, ein Abbau vieler Verwaltungsschritte einher
- es konnen offentliche Mittel eingespart werden und das Wirtschaftssystem
wird effizienter. Betrachtet man dies vom Standpunkt des wirtschaftlichen
Konkurrenzverhaltens zwischen Staaten, so ist zu erwarten, dass die mit
der starksten Deregulierung die effizientesten seien. Ein Blick auf die
USA konnte dies bestatigen. Wie weit lasst sich diese Art von Deregulierung
treiben? Gehen wir zum Extrem: Abschaffung der Polizei, Ubergang zur Selbstverteidigung,
jeder darf Waffen zu diesem Zweck besitzen. In dunn besiedelten Gebieten
einschlie"slich dorflicher Gemeinden konnte dies durchaus sinnvoll
sein. Aber auch in Ballungsgebieten bieten sich neue Losungen an. So sind
zum Beispiel Gro?einsatze der Polizei, z.B. bei Sportereignissen oder
politischen Demonstationen, zwar selten, erfordern aber viel Personal.
Soll dies also standig bereit gehalten werden oder konnte man nicht wie
bei der freiwilligen Feuerwehr verfahren, wo in den Dorfern und Gemeinden
die Situation ganz ahnlich ist? Ware also eine freiwillige Polizei fur
die Gro?einsatze nicht erwagenswert? Dabei konnte diese mit einer zahlenma?ig
viel kleineren Berufspolizei zusammenarbeiten.
Die neuen technischen
Moglichkeiten der Wissensvermittlung, insbesondere durch das Internet,
eroffnen neue Wege zur politischen Meinungsbildung, vielleicht aber auch
zur politischen Willensbildung. Bislang wurden Meinungen durch Zeitungen,
Rundfunkanstalten und Fernsehen - wenigstens in gewissem Umfang - kanalisiert,
wobei das Spektrum von staatlich gelenkten Medien in Diktaturen bis zur
verantwortungsbewussten Meinungsvielfalt privater Medienanbieter reicht.
Hierbei treten Ruckkopplungseffekte auf. Zeitungen etwa bilden ein gewisses
Couleur, um sich auf eine jeweils bestimmte Leserschaft einzustellen,
die dann wiederum eine bestimmte Zeitung bevorzugt. Zwischen Zeitungen
kommt es so zu Konkurrenzverhalten. Kann es auch im Internet im Sinne
der Selbstorganisation zu einer Strukturisierung in der Meinungsvielfalt
kommen? Dies wird auf dem finanziellen Wege geschehen, zumindest wenn
es sich um seri\"ose Berichterstattung und fundierte Meinungsubermittlung
handelt. Beides kostet Geld - viel Geld - so dass die Anbieter gezwungen
sind, Gebuhren fur ihre Dienste zu erheben. Dies fuhrt zu einem Wettkampf
der Anbieter um die Kunden - im Sinne der Synergetik werden die Anbieter
zu Ordnern - und je nach Differenzierung der Kundeninteressen konnen verschiedene
Ordner - wie bei Zeitungen - koexistieren oder mussen schlie?lich einem
einzigen Platz machen. Was passiert mit den Anbietern, die ihre Produkte
billig herstellen? Diese konnen nur durch Gebuhren seitens der Netzbetreiber
abgeschreckt werden. Wie kann in
der Selbstorganisationsgesellschaft der Schritt von der politischen Meinungsbildung
zur politischen Willensbildung geschehen? Hier bieten die Nachrichten-
und Computertechnik neue M\"oglichkeiten, die Parteien \"uberfl\"ussig
erscheinen lassen. Ich denke hier an eine Art st\"andiger Volksabstimmungen. Durch die Berichte der Medien erkennen die B\"urger die Notwendigkeit zu politischem Handeln. Dies k\"onnen neue Steuergesetze, Strafgesetze, etc. sein, aber auch Entscheidungen z.B. \"uber einen Milit\"areinsatz. Mit anderen Worten, der B\"urger entscheidet
direkt \"uber Legislative, aber auch \"uber Exekutive. Ob beides m\"oglich ist, sei hier dahin gestellt, aber es lassen sich hier vermutlich ad\"aquate Verfahrensweisen entwickeln. So wie bisher stichprobenartig Meinungsumfragen erfolgten, k\"onnen jetzt alle B\"urger ihre
Meinung elektronisch mitteilen, wobei durchaus Konfliktsituationen entstehen k\"onnen. Es muss also ein Prozess der Konsensusfindung im elektronischen Zeitalter gefunden werden. Dies kann durch Erziehung und Wisssenschaft Wenden wir
uns der Erziehung zu. Privatschulen sind in Deutschland die Ausnahme und bed\"urfen der staatlichen Anerkennung. Zudem sind sie
im allgemeinen nur finanziell gut gestellten Kreisen zug\"anglich. Die technischen M\"oglichkeiten des Fernunterrichts deuten sich hier
erst an. Gibt es gen\"ugend Teilnehmer, so wird dieser f\"ur viele erschwinglich, und es bilden sich auf dem Wege der Selbstorganisation neue Gruppierungen von Sch\"ulern und Lehrern heran. Spricht es sich herum, dass die betreffenden Sch\"uler im Leben bessere Chancen als die von staatlichen Schulen haben, so wird der Zulauf zu diesen Schulen gr\"o"ser, die Geb\"uhren geringer und der Zulauf
w\"achst weiter. Dass bei dieser Technisierung nat\"urlich das Lehrer-Sch\"ulerverh\"altnis - sowohl menschlich als auch zahlenm\"a"sig - auf der Strecke bleiben kann, sei hier Entstaatlichung uberall In welchen
Bereichen haben wir eine weitere "`Entstaatlichung"' zu erwarten?
Einen ersten Eindruck vermitteln hierzu die USA. Dem Sport wird immer
mehr die staatliche Unterstutzung entzogen, es findet in gewissem Sinne
eine Konkurrenz der Sportarten statt, wobei die Zahl der jeweiligen Anhanger
- z.B. uber die Fernseh-Einschaltquoten - eine ausschlaggebende Rolle
spielt. Bei Sportarten, die im allgemeinen von relativ wenigen Anhangern
getragen werden, die aber zum nationalen Prestige beitragen, bedarf es
dann wohlhabener Mazene. Dies sind dann - siehe USA - gro?e Firmen, die
ihr Sponsorentum uber Werbung in klingende Munze verwandeln. Wahrend es
fur den Sport zahlreiche Begeisterte gibt, die auch erhebliche Beitrage
zahlen, ist - wofur Berlin nur als ein Beispiel stehen mag - eine restlose
Privatisierung der Kunst, wenigstens fur mich, au?erst schwer vorstellbar.
Es geht hier nicht nur um den Kunstgenu? der Zuschauer oder Horer, sondern
eine Kulturnation muss sich einfach ihre Kunstler ohne staatliche oder
wirtschaftliche Bevormundung leisten konnen, wobei ich eine ma"svolle
wirtschaftliche R"uckkopplung nicht ausschlie"sen mochte.
Fassen wir
noch ein weiteres hei?es Eisen an: Steuern. Diese flie?en in verschiedene
Kassen: in die der Gemeinden, Stadte, Lander, des Bundes. Die Steuergesetzgebung
ist zu einem unentwirrbaren Dschungel geworden - fast jeder Burger braucht
einen Steuerberater. Die Selbstorganisationsgesellschaft wird hier neue
Wege suchen mussen. Ein Weg bietet sich uber "`elektronische Direktdemokratie"',
wobei durch geeignete Rahmenbedingungen ("`Kontrollparameter"')
komplizierte Regelungen ausgeschlossen werden. Die Synergetik bietet Beispiele,
wie solche Kontrollparameter aussehen konnen. Ein anderer, noch revolutionarer
Weg, ware die Steuereintreibung Privatfirmen zu \"ubertragen. Auf
jeden Fall bedarf es in der Selbstorganisationsgesellschaft einer drastischen
Vereinfachung des Steuersystems, so dass jeder Einzelne ohne fremde Hilfe
und ohne Steuerverwaltung seine Steuer berechnen und zahlen kann.
Im Vorangegangenen entwarf ich das Bild einer Gesellschaft von Individualisten. Aber sowohl vom Standpunkt des Einzelnen wie auch von dem des Systems wissen wir, dass jetzt neue Konflikte zu losen sind. Als Individuum stehen wir standig vor neuen Entscheidungen. Naturlich gibt es hier ausgeklugelte Theorien, wie z.B. die beruhmte Spieltheorie von O. Morgenstern und J. von Neumann. Aber wie mir Morgenstern vor Jahren sagte, glaube er nicht, dass sich eine Hausfrau danach bei ihren Einkaufen richten wurde. Vielmehr tun Menschen oft das, was sie das letzte Mal - mehr oder weniger erfolgreich - unter ahnlichen Bedingungen taten. Ein anderes, noch haufiger angewandtes Prinzip ist zu tun, was die anderen tun. Damit sind wir beim Kollektiv-Verhalten angelangt - Bildung von Gruppen, von Allianzen - oder bei Interessen-Unterschieden, Findung eines Konsensus. Diese Interessengemeinschaften konnen die verschiedensten Formen und Gro?en annehmen, wobei die Mitglieder einer Allianz fest zusammenhalten, die Mitglieder einer anderen hingegen ignorieren oder sogar als Konkurrenten betrachten. Vor allem die beiden amerikanischen Kontinente liefern aufschlussreiche Beispiele. Dabei ist eine Abschottung der Reichen von den Armen nicht zu ubersehen, seien dies schon fast zu Festungen ausgebaute Wohnviertel, die von privaten Sicherheitskraften bewacht werden, oder exklusive Clubs. Auf wirtschaftlichem Gebiet sehen wir das immense Wachstum gro? er internationaler Konzerne, denen, wie es oft scheint, staatliche Kartell\"amter fast ohnmachtig gegenuberstehen, wobei auch deren Regulierungseingriffe in ihren Konsequenzen zuweilen schwer abzuschatzen sind. Was in einem einzelnen Land als bedrohlicher Monopol-besitzender Konzern erscheint, ist auf der Weltbuhne vielleicht nur ein kleiner Mitspieler. Zugleich treten Globalisierungsgegner der verschiedensten Richtungen auf den Plan. Letztendlich kommen wir um die Frage der Ethik nicht herum. Sind verschiedene Ethiken moglich, konnen diese koexistieren, sind sie miteinander kompatibel? Der bedeutende Nationalokonom Friedrich August von Hayek vertrat hier eine evolutionare These: diejenige Ethik bildet sich heraus, die okonomisch erfolgreich ist. So sagte er das Ende der Sowjetunion auch aus dem Grunde voraus, dass deren System das Privateigentum leugnete. Aber im Sinne der Synergetik setzt die Entstehung eines stabilen Ordners - im vorliegenden Falle einer verbindlichen Ethik - konstante Kontrollparameter voraus. Im Hinblick auf die rapide Entwicklung u.a. von Technik und Medizin ist diese Voraussetzung nicht mehr erfullt. Gibt es also ubergeordnete Prinzipien? Helfen hier Gesetze, obwohl diese doch wiederum auf ethischen Prinzipien beruhen? Konnen hier die Medien als Meinungsmacher helfen, obwohl das Internet ungefiltert und (fast) unkontrolliert alle moglichen Meinungen zu verbreiten hilft? Meine Antwort gebe ich am Schluss dieses Beitrags.
In der Selbstorganisationsgesellschaft
entfallt zunehmend die direkte staatliche Kontrolle. Dies gibt uns das
Gefuhl der Freiheit. Jedoch treten - ganz im Sinne der Synergetik - Sachzwange
an die Stelle jener direkten Kontrolle. Wir leben - ob wir es wahrhaben
wollen oder nicht - in der Illusion der Freiheit. Zugleich kann der Kampf
ums Uberleben in ein Streben nach Macht umschlagen. Wahrend aber fruher
sich Macht besonders in der Staatenbildung ausdruckte, fuhrt der heutige
Macht\-erwerb auf dem Weg uber Gruppenbildung oft uber die Staatsgrenzen
hinweg. Zugleich orientiert er sich an gemeinsamen Merkmalen wie Sprache,
Religion, Volkszugehorigkeit, usw., was auch zu irrationalem Verhalten
fuhrt. Klarer sind oft die Verhaltnisse, wenn es sich um gemeinsame wirtschaftliche
Interessen handelt. An die Stelle von Koexistenz tritt oft der Wettbewerb
verschiedener Ordner, seien diese Wirtschaftssysteme, Finanzgruppen oder
Religionen. Wir erleben im Rahmen der Selbstorganisationsgesellschaft
eine Welt, die immer turbulenter wird - eine Struktur lost die andere
ab. Politische Ansprechpartner, fur Ordnung sorgende Instanzen drohen
dahin zu schwinden. Sollen wir also letztlich eine Weltdiktatur anstreben,
die fur Ruhe und Frieden sorgt - allerdings fur den Frieden eines Friedhofs?
Epilog In meinem Beitrag habe ich versucht, ein Bild der Selbstorganisationsgesellschaft zu zeichnen, wie es sich aus einer Theorie der Selbstorganisationstheorie ableiten lasst. Dabei muss ich die Antwort offenlassen, ob eine derartige Gesellschaftsform im Detail realisierbar oder auch uneingeschrankt wunschbar ist. Auf jeden Fall wollte ich Denkansto?e zur weiteren Diskussion dieser fundamentalen Aspekte geben, wobei es immer wieder darum geht, die Interessen des Einzelnen gegen"uber denen der Gesellschaft abzuw"agen. Literatur H. Haken: Erfolgsgeheimnisse der Natur. Synergetik: Die Lehre vom Zusammenwirken. (rororo Sachbuch) 1995, Reinbek bei Hamburg Russische "Ubersetzung:... |