Herausforderungen
von Komplexitat im 21. Jahrhundert:
Dynamik und Selbstorganisation im Zeitalter der Globalisierung Lehrstuhl fur Philosophie und Wissenschaftstheorie Institut fur Interdisziplinare Informatik Universitat Augsburg |
1. Von der linearen zur nichtlinearen Dynamik 2. Selbstorganisation und Dynamik in der Natur 3. Selbstorganisation und Dynamik in Medizin und Gehirnforschung 4. Selbstorganisation und Dynamik in Computer-, Informations- und Kommunikationssystemen 5. Selbstorganisation und Dynamik in Wirtschaft und Gesellschaft 6. Selbstorganisation und Dynamik im Management von Unternehmen und Verwaltungen 7. Selbstorganisation
und Dynamik im Zeitalter der Globalisierung: 8. Was lernen wir aus der nichtlinearen Dynamik komplexer Systeme?
Nach I. Newton (1643-1727) sind alle physikalischen Wirkungen durch Krafte als ihren Ursachen eindeutig determiniert. Ziel der Naturforschung (�philosophia naturalis') ist es, diese Krafte durch mathematische Gesetze (�principia mathematica') zu bestimmen, um damit alle beobachtbaren, vergangenen und zukunftigen physikalischen Ereignisse erklaren und berechnen zu konnen. 100 Jahre spater wird daraus bei P.-S. de Laplace (1747-1827) der Glaube an eine omnipotente Berechenbarkeit der Natur, wenn im Idealfall (�Laplacescher Geist') alle Kraftgesetze und Anfangsbedingungen bekannt waren. Diese Annahme gilt sicher fur lineare dynamische Systeme wie einen harmonischen Oszillator. Bei einer Masse, die an einer Feder befestigt ist, fuhrt eine kleine Auslenkung zu einer kleinen Schwingung, wahrend eine gro?e Auslenkung eine gro?e Schwingung als Wirkung verursacht. Ursachen und Wirkungen sind in diesem Fall ahnlich. Mathematisch erhalten wir dann eine lineare Gleichung. Eine Losung dieser Bewegungsgleichung lasst sich als Zeitreihe des Orts in Abhangigkeit von der Zeit darstellen. Dieser regularen Schwingung entlang der Zeitachse entspricht eine geschlossene Bahn (,Trajektorie') im Phasenraum, in dem alle Zustande des dynamischen Systems als Punkte dargestellt sind. Im Phasenraum erkennen wir also die Dynamik eines linearen Oszillators vollstandig, wie der Laplacesche Geist. Eine Kausalitatsanalyse ist in diesem Fall nicht nur vollstandig durchfuhrbar, sondern auch berechenbar. Aus der Mathematik wissen wir: Lineare Gleichungen sind leicht zu losen. Nichtlineare Gleichungen erlauben aber nicht immer beliebig genaue Berechenbarkeit, selbst mit unsern besten Computern. Ein Beispiel sind die Mehrkorperprobleme der Himmelsmechanik, bei denen mehr als zwei Himmelskorper gravitativ aufeinander einwirken. H. Poincare (1892) zeigt erstmals, dass bei einem nichtlinearen Mehrkorperproblem chaotisch instabile Bahnen auftreten konnen, die empfindlich von ihren Anfangswerten abhangen und langfristig nicht vorausberechenbar sind. Schlie?lich bewiesen A. N. Kolmogorov (1954), V. I. Arnold (1963) und J. K. Moser (1962) ihr beruhmtes KAM-Theorem: Trajektorien im Phasenraum der klassischen Mechanik sind weder vollstandig regular noch vollstandig irregular, sondern hangen empfindlich von den gewahlten Anfangsbedingungen ab. Winzige Abweichungen von den Anfangsdaten fuhren zu vollig verschiedenen Entwicklungstrajektorien (,Schmetterlingseffekt'). Daher konnen die zukunftigen Entwicklungen in einem chaotischen (Hamiltonschen) System langfristig nicht vorausberechnet werden, obwohl sie mathematisch wohl definiert und determiniert sind. Ein anderer Weg zu dieser Komplexitat wurde ebenfalls im 19. Jahrhundert gelegt. P. F. Verhulst untersuchte 1845 eine nichtlineare Differenzengleichung, um das Wachstum von Populationen in nachfolgenden Generation in Abhangigkeit von einem Wachstumsparameter zu berechnen. Die Zeitreihen der Verhulst-Dynamik zeigen fur schwaches Wachstum eine S-formige Kurve mit der Sattigung in einer Gleichgewichtspunkt, fur starkeres Wachstum eine Oszillation zwischen zwei Populationsgro?en und bei starkem Wachstum vollig irregulare chaotische Schwankungen. Im Zustandsraum sieht man anschaulich, wie die Dynamik der Trajektorie im 1. Fall auf einen Fixpunktattraktor zielt und im 2. Fall zwischen zwei Zustanden schwankt. Im 3. Fall fuhren selbst eng benachbarte Anfangswerte nach wenigen Iterationsschritten zu irregular auseinanderlaufenden Trajektorien. Im Computermodell fuhren dann geringste Veranderungen von digitalisierten Anfangsdaten zu einer exponentiell wachsenden Rechenzeit zukunftiger Daten, die Langzeitprognosen praktisch ausschlie?t. Man beachte: Dieses nichtlineare Wachstumsgesetz ist mathematisch vollstandig determiniert. Es geht also um Grenzen der praktischen Berechenbarkeit von Wirkungen aus Ursachen bei nichtlinearer Dynamik.
Nichtlineare Dynamik fuhrt jedoch nicht nur zu Chaos, sondern ermoglicht auch Selbstorganisation von Ordnung in komplexen Systemen. Dabei kommt es zu charakteristischen Ruckkopplungen von Systemelementen, bei denen Wirkungen von Ursachen selber wieder zu Ursachen werden, um ihre Ursachen zu beeinflussen. So entstehen makroskopische Strukturen, die nicht durch die Systemelemente vorgegeben sind, aber durch ihre Wechselwirkung bei geeigneten Anfangs- und Nebenbedingungen (d.h. Einstellung von Kontrollparametern) moglich werden. Man spricht dann auch von Emergenz von Ordnung. Beispiel: In Gasen wirken gesto?ene Molekule ihrerseits wieder auf die sie sto?enden Molekule ein und erzeugen bei veranderter Temperatur unterschiedliche Aggregatzustande. In der Chemie reproduzieren autokatalytische Stoffe sich selber und erzeugen bei geeignetem Stoff- und Energieaustausch (Metabolismus) organische Lebensfunktionen. Die Zirkelkausalitat dieser vielfaltigen Wechselwirkungen wird mathematisch durch gekoppelte nichtlineare Gleichungen der einzelnen Systemelemente ausgedruckt. Allgemein besteht ein komplexes dynamisches System aus einer gro?en Anzahl von Elementen. Die mikroskopischen Zustande der Elemente bestimmen den makroskopischen Zustand des Systems. So ist in einem Planetensystem der Zustand eines Planeten zum einem Zeitpunkt durch seinen Ort und seine Geschwindigkeit bestimmt. Es kann sich aber auch um den Bewegungszustand eines Molekuls in einem Gas, den Erregungszustand einer Nervenzelle in einem neuronalen Netz oder den Zustand einer Population in einem okologischen System handeln. Die Dynamik des Systems, d.h. die Anderung der Systemzustande in der Zeit, wird durch Differentialgleichungen beschrieben, wobei jeder zukunftige Zustand durch den Gegenwartszustand eindeutig bestimmt ist. Statt kontinuierlicher Prozesse lassen sich auch diskrete Prozesse als Anderung der Systemzustande in Zeitschritte durch Differenzengleichungen untersuchen. Die gleichzeitige Wechselwirkung vieler Elemente wird durch nichtlineare Funktionen erfasst. Zufallsereignisse (z.B. Brownsche Bewegung) werden durch zusatzliche Fluktuationsterme berucksichtigt. Bei stochastischen Prozessen geht es um die zeitliche Veranderung von Wahrscheinlichkeitsverteilungsfunktionen von Zustanden, die z.B. durch eine Mastergleichung beschrieben werden. Die Thermodynamik untersucht komplexe Systeme (z.B. Flussigkeiten, Gase) aus vielen Elementen (z.B. Atome, Molekule) mit vielen Freiheitsgraden der Bewegung. Makroskopische Zustande des Systems (z.B. Warme) werden auf mikroskopische Wechselwirkungen der Elemente zuruckgefuhrt und nach den Gesetzen der statistischen Mechanik erklart. Die Thermodynamik bietet viele Beispiele von komplexen Systemen, deren Elemente sich unter geeigneten Nebenbedingungen zu neuen Ordnungen selbststandig zusammenfugen. Ein alltagliches Beispiel ist ein Regentropfen auf einem Blatt mit seiner perfekten glatten Oberflache. Die Wassermolekule am Rand des Tropfens befinden sich in einem hoheren Energiezustand als im Innern. Da das System nach den Gesetzen der Thermodynamik einen Zustand niedrigster Gesamtenergie einnehmen muss, minimiert der Tropfen die Ausdehnung seiner energiereichen Oberflache und bildet so seine makroskopische Form. Bekannt sind auch die Eisblumen, zu denen sich Wassermolekule in der Nahe des thermischen Gleichgewichts zusammenfugen. Ein Ferromagnet lasst sich als ein komplexes System aus vielen kleinen Dipolen (,Spins') auffassen, die in zwei Richtungen �up' ( ) oder �down' ( ) zeigen konnen. Der Ordnungsparameter des Systems ist durch die Durchschnittsverteilung der Spinrichtungen bestimmt. Im Zustand niedrigster Energie zeigen die Spins alle in dieselbe Richtung. In diesem Fall ist das System magnetisiert. Bei sehr hoher Temperatur (jenseits des Curie-Punktes) ist die Verteilung der Spinrichtung zufallig und irregular. In diesem Fall ist die thermische Energie als Ursache von Fluktuationen gro?er als die Energie der Wechselwirkungen. Wird die Temperatur als Kontrollparameter des Systems gesenkt, dann strebt das System einem Gleichgewichtszustand kleinster Energie am Curie-Punkt zu, in dem die Dipole das regulare Ordnungsmuster der gleich ausgerichteten Dipole bilden. Isolierte Systeme ohne Stoff- und Energieaustausch mit ihrer Umwelt streben nach dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik von selbst in den Gleichgewichtszustand maximaler Entropie (z.B. strukturlose, irregulare Verteilung der Gasmolekule in einem isolierten Behalter). Abgeschlossene (,konservative') Systeme ohne Stoff-, aber mit Energieaustausch mit ihrer Umwelt hangen von einem Kontrollparameter (z.B. die Temperatur bei einem Ferromagneten) ab. In der Nahe des thermischen Gleichgewichts fugen sich die Systemelemente bei Absenkung auf einen kritischen Wert von selbst zu Ordnungs- bzw. Aggregatszustanden niedriger Entropie und Energie zusammen. Diese Phasenubergange lassen sich nach L. D. Landau durch Ordnungsparameter charakterisieren wie die Verteilung von Dipolzustanden bei Ferromagneten. Phasenubergange von abgeschlossenen Systemen in der Nahe des thermischen Gleichgewichts werden auch als konservative Selbstorganisation bezeichnet. Dieses Prinzip der Selbstorganisation, wonach sich Atome, Molekule und Molekulverbande selbststandig zu wohlgeordneten und funktionierenden Einheiten zusammenfugen, findet bereits technische Anwendung in der Materialforschung. Bei der Fertigung von Halbleiter-Kristallen wird davon ausgegangen, dass sich Silicium- und Dotier-Atome von selbst in der gewunschten Weise anordnen. Durch Selbstorganisation bilden sich z.B. winzige Graphitrohren von einigen millionstel Millimeter Durchmesser (Nanorohren), die zu den kleinsten jemals hergestellten elektrischen Drahten gehoren. Im Computerbau werden mit zunehmender Miniaturisierung Chips notwendig, deren winzige Bauteile durch keine Maschine zusammengesetzt werden konnen. Sie mussten sich selber nach den Gesetzen der Selbstorganisation zu gro?eren Funktionseinheiten zusammenlagern. Wie wir spater sehen werden, gelten die Gesetze konservativer Selbstorganisation formal haufig auch, wenn die physikalischen Gro?en durch chemische, biologische, medizinische oder technische Gro?en ersetzt werden. Fern des thermischen Gleichgewichts hangen Phasenubergange von hochgradig nichtlinearen und dissipativen Mechanismen ab. Makroskopische Ordnungsstrukturen entstehen durch komplexe nichtlineare Wechselwirkungen mikroskopischer Elemente, wenn der Stoff- und Energieaustausch des offenen (dissipativen) Systems mit seiner Umwelt kritische Werte erreicht. In diesem Fall wird die Stabilitat der Ordnungsstrukturen durch eine gewisse Balance von Nichtlinearitat und Dissipation garantiert. Zu starke nichtlineare Wechselwirkung oder Dissipation wurde die Ordnung zerstoren. Emergenz von Ordnung ist also nichts Mystisches, sondern la?t sich mathematisch prazise durch nichtlineare Dynamik erklaren: Das "Ganze" der neuen Ordnung ist eben "mehr" als die Summe ihrer "Teile" bzw. Systemelemente. Bei linearer Dynamik ware der makroskopische Zustand nur die Summe seiner Teile. Ein bekanntes Beispiel ist das Benard-Experiment, wobei eine Flussigkeitsschicht von unten im Gravitationsfeld erwarmt wird. Bei geringer Temperaturdifferenz mit der Oberflache wird die Warme durch Warmeleitung transportiert, die viskosen Krafte gewinnen und die Flussigkeit bleibt in Ruhe. Erreicht der Kontrollparameter der Temperaturdifferenz einen kritischen Wert, beginnt eine makroskopische Rollbewegung der Flussigkeit. Dieses geordnete dynamische Muster von Konvektionsrollen wird also durch au?ere Energiezufuhr jenseits des thermischen Gleichgewichts aufrechterhalten. Es kommt zu einer raumlichen Symmetriebrechung der beiden moglichen Rollrichtungen, die sich aufgrund geringster Anfangsfluktuationen aufbauen und daher nicht vorausgesagt werden konnen. Anschaulich lasst sich ein Bifurkationsschema angeben, in dem der thermodynamische Zweig minimaler Entropieerzeugung instabil wird und zwei mogliche stationare (lokale) Ordnungsmuster auftreten konnen - die links- oder rechtsdrehenden Konvektionsrollen. 'I'reibt man die Erwarmung noch weiter und damit das System immer weiter fort vom thermischen Gleichgewicht, entstehen zunachst quasi-oszillierende Wirbel und schlie?lich vollig irregulare und chaotische Stromungen. Die nichtlinearen Gleichungen des Benard-Experiments wurden von E. N. Lorenz (1964) auch verwendet, um die Dynamik des Wetters und der Atmosphare zu modellieren. Allgemein verstehen wir unter offenen (,dissipativen') Systemen solche komplexen Systeme, die im Stoff- und Energieaustausch mit ihrer Umwelt sind. Selbstorganisation und Emergenz von Ordnung lasst sich in mathematischer Analyse auf eine nichtlineare Zirkelkausalitat der Systemelemente zuruckfuhren. Das Standardverfahren dazu ist eine lineare Stabilitatsanalyse. Man untersucht das Verhalten des Systems in der Nahe eines Instabilitatspunktes. Nach Anderung eines stationaren Zustands lasst sich das Verhalten der einzelnen Systemelemente unterscheiden. Bei einer kleinen Anderung weisen die meisten Moden der Systemelemente nur geringe Abweichungen auf. Einige Moden potenzieren sich allerdings zu gro?en Amplituden auf, die auf das Gesamtverhalten der Systemelemente zuruckwirken. Sie werden daher als Ordnungsparameter bezeichnet, die neue makroskopische Strukturen, Muster oder Trends erzeugen. Anschaulich gesprochen brechen alte Ordnungen in der Nahe von Instabilitatspunkten zusammen, und neue Ordnungen organisieren sich aufgrund der beschriebenen Zirkelkausalitat zwischen Systemelementen und Ordnungsparametern selber. Bei weiterer Veranderung des Kontrollparameters kann die Dynamik eines offenen Systems immer neue lokale Gleichgewichtszustande einnehmen, die wieder instabil werden. Man denke etwa an die verschiedenen Oberflachenmuster, die ein Fluss hinter einem Bruckenpfeiler in Abhangigkeit von der steigenden Flussgeschwindigkeit als Kontrollparameter bilden kann. Sie reichen von einem homogenen (Fixpunkt-) Zustand uber oszillierende und quasi-oszillierende Wirbel bis zur chaotischen Strudelbildung. Man spricht auch von den Attraktoren eines dissipativen Systems, das vom thermodynamischen Gleichgewicht immer weiter fortgetrieben wird. Die entsprechenden Phasenubergange werden als dissipative Selbstorganisation bezeichnet. Die Beschreibung der makroskopischen Dynamik durch Ordnungsparameter bedeutet eine erhebliche Reduktion von Komplexitat gegenuber der Mikroebene. Die Anzahl der Ordnungsparameter ist namlich wesentlich kleiner als die Anzahl der Mikrozustande (z.B. einzelner Molekule), die den Gesamtzustand eines komplexen Systems auf der Mikroebene bestimmen. In seinem Konzept der Synergetik spricht Haken (1983) anschaulich von einer ,Versklavung' der Mikrozustande durch die Ordnungsparameter in der Nahe von Instabilitatspunkten. Dabei unterscheidet sich die Zeitskalierung auf der Makro- und Mikroebene insofern, als Ordnungsparameter nach Storungen langsamer relaxieren als die sich rasch verandernden Mikrozustande. In der Chemie kann wie in der Physik die Entstehung von Ordnung in komplexen Systemen in der Nahe und fern des thermischen Gleichgewichts unterschieden werden. In der Nahe des thermischen Gleichgewichts geht es z.B. um die Entstehung von Kristallen und Festkorpern. Molekulare Bausteine konnen sich nahe dem Gleichgewicht nach chemischen Schablonen zu Riesenmolekulen gruppieren (z.B. Polyoxometallate, Fullerene, Dendrimere). In der supramolekularen Chemie werden bereits molekulare Selbstorganisationsprozesse in der Nahe des thermischen Gleichgewichts ausgenutzt, um hochkomplexe Molekulaggregate im Nanobereich zu erzeugen. Dabei werden kugelformige geschlossene Strukturen ebenso gebildet wie Gitter-, Leiter- und Spiralstrukturen, die der Erbsubstanz DNA ahneln. Manche dieser Gebilde sind in ihrer Gro?e mit Proteinen und anderen biologischen Makromolekulen vergleichbar. Wegen ihrer optischen, elektrischen, magnetischen oder supraleitenden Effekte werden diese Riesenmolekule gezielt fur die Materialforschung und Pharmazie untersucht. Diese Effekte entsprechen makroskopischen Ordnungszustanden des Gesamtsystems analog zur Magnetisierung eines Ferromagneten, die aus den einzelnen Bausteinen des komplexen Systems nicht ableitbar sind. Das Ganze ist nicht die Summe seiner Teile. Mathematisch handelt es sich um nichtlineare Systeme, deren Wirkungen nicht nur die lineare Summe der Einzelwirkungen ihrer Systemelemente sind. In offenen (dissipativen) chemischen Systemen konnen Phasenubergange wie in der Physik zu immer komplexeren makroskopischen Mustern stattfinden, die durch nichtlineare chemische Reaktionen in Abhangigkeit von einer au?eren Zu- und Abfuhr von Stoffen (,Kontrollparameter') ausgelost werden. So treten bei der Belousov-Zhabotinski (,BZ')-Reaktion konzentrisch pulsierende Ringe auf, wenn von au?en energiereiche Substanzen bis zu einem kritischen Kontrollwert zugefuhrt werden. Es handelt sich um ein dissipatives dynamisches Ordnungsmuster eines offenen Systems, das bei einem kritischen Kontrollwert von au?en aufrechterhalten werden muss. Der Wettbewerb der isolierten Ringe veranschaulicht die Nichtlinearitat dieses Prozesses, da bei Linearitat die Wellen sich wie in der Optik uberlagern (,superponieren') wurden. Auch in diesem Fall kann das System durch Zufuhr von Energie immer weiter vom thermischen Gleichgewicht fortgetrieben werden, bis schlie?lich vollig irregulare und chaotische Muster auftreten. Die Komplexitat chemischer Reaktionen fern des thermischen Gleichgewichts lasst sich durch Bifurkationsdiagramme veranschaulichen. In einem kritischen Abstand vom Gleichgewichtspunkt wird der thermodynamische Zweig der minimalen Energieproduktion (lineare Thermodynamik) instabil und verzweigt sich zu neuen moglichen lokal stabilen Zustanden (Symmetriebrechung). Damit beginnt die nichtlineare Thermodynamik des Nichtgleichgewichts wie z.B. der Grenzzyklus einer chemischen Oszillation. Treibt man die nichtlinearen Reaktionen immer weiter vom Gleichgewichtszustand, entsteht ein zunehmend komplexeres Verzweigungsschema mit neuen moglichen lokalen Gleichgewichtszustanden bis hin zum Chaos. Diese lokalen Gleichgewichtszustande sind mit der "Emergenz" von neuen Phanomenen (z.B. Stromungsmustern, Attraktoren) verbunden. Tatsachlich handelt es sich mathematisch um nichts anderes als das Auftreten neuer Losungen nichtlinearer Differentialgleichungen, wenn die Kontrollparameter entsprechende kritische Werte einnehmen. Offene physikalische und chemische Systeme zeigen also Eigenschaften, die wir auch lebenden Systemen zuschreiben. Es findet ein Stoff- und Energieaustausch (�Metabolismus') mit der Umwelt statt, der das System von Tod und Erstarrung im thermischen Gleichgewicht fern und die Ordnung des Systems aufrecht erhalt. Die Ordnungen entstehen durch ,Selektion' und ,Kooperation' der Systemteile bei geeigneten Bedingungen. Geringste Fluktuationen (,Mutationen') konnen zu globalen Veranderungen des Gesamtsystems fuhren. Im Unterschied zu den Mustern dissipativer Systeme in Physik und Chemie brechen aber z.B. lebende Zellen und Organismen nicht spontan zusammen, wenn die Stoff- und Energiezufuhr kurzfristig unterbrochen wird. Konservative Strukturen in (teilweise) abgeschlossenen Systemen sind also fur die Lebenserhaltung ebenfalls unerlasslich. Fur die Emergenz von Lebensprozessen ist also keine besondere Kausalitat notwendig, wie in der Tradition immer angenommen wurde. Zu dieser Annahme werden wir nur genotigt, wenn wir Kausalitat linear wie die traditionelle Mechanik des 17. und 18. Jahrhunderts verstehen. Fur die Erklarung von Lebensentstehung und Lebenserhaltung reichen die Gesetze der Thermodynamik allerdings nicht aus. Bei der zellularen Selbstorganisation sind die Anweisungen fur den Aufbau des Systems in den Bausteinen selbst (d.h. der molekularen DNS-Struktur der Zelle) verschlusselt. Man spricht daher auch von einer genetisch kodierten Selbstorganisation der biologischen Evolution im Unterschied zur thermodynamischen Selbstorganisation. In der prabiotischen Evolution geht es um die spannende Frage, wie die thermodynamische Selbstorganisation physikalischer und chemischer Systeme nahe und fern des thermischen Gleichgewichts schlie?lich den Weg zur kodierten Selbstorganisation der biologischen Evolution fand. Die thermodynamische Selbstorganisation liefert nur die physikalischen und chemischen Rahmenbedingungen fur die genetische Selbstreplikation von Nukleinsauren und Proteinsynthesen. Sie verwendet autokatalytische Prozesse, die im (vereinfachten deterministischen) Modell des Hyperzyklus nach M. Eigen (1971) durch nichtlineare Differentialgleichungen 1. Ordnung fur Konzentrationen chemischer Stoffe beschrieben werden. Das Schema des Hyperzyklus zeigt die wachsende Komplexitat vom Makromolekul zur integrierten Zellstruktur. In der Sprache der Tradition konnte man auch von der "Emergenz" neuer Phanomene sprechen, die auf hierarchischen Stufen der Evolution von der katalytischen Wechselwirkung einfacher Molekule uber die Autokatalyse von Makromolekulen (z.B. Proteine) bis zur komplexen Wechselwirkung in einer Zelle auftreten. Typisch ist dabei wieder die Zirkelkausalitat. Vom Standpunkt komplexer Systeme ist die biologische Evolution der Arten durch eine ruckgekoppelte Dynamik von Genotyp, Phanotyp und Population bestimmt. Danach ware der Genotyp ein komplexes System von Genen auf der Mikroebene, aus dem sich auf der Makroebene der Phanotyp eines Organismus mit makroskopischen Eigenschaften wie z.B. Gestalt und Gro?e als genetischen Ordnungsparametern entwickelt. Populationen sind komplexe Systeme von Organismen, deren Selektion wieder auf den Genpool zuruckwirken kann. Viele der dabei wirkenden Mechanismen sind zwar heute noch unbekannt. Mathematische Modelle mit komplexen dynamischen Systemen konnten aber prazisierte Konzepte liefern, die in der empirischen biologischen Forschung uberpruft, weiterhelfen oder verworfen werden. Dabei handelt es sich wieder um nichtlineare Differentialgleichungen, mit denen die Dynamik auf den hierarchischen Stufen von Genotyp, Phanotyp und Population beschrieben werden. Ihren Losungen unter geeigneten Werten ihrer Kontrollparameter entsprechen der Emergenz der neuen Lebensphanomene, die auf diesen Stufen auftreten. Die Evolution neuer Arten wird also durch Phasenubergange des Nichtgleichgewichts modelliert. Mutationen entsprechen den �fluktuierenden Kraften', Selektionen den ,treibenden Kraften'. Solche Gleichungen bestimmen Klassen von moglichen Bifurkationsbaumen als Evolutionsschemata mit Fluktuationen (,Mutationen') in den Verzweigungen und treibenden Kraften in den Entwicklungsasten der Arten. Wie in anderen Modellen auch, lassen sich mogliche Evolutionsszenarien mit lokalen Gleichgewichten angeben. Auch das okologische Zusammenleben von Populationen lasst sich mit komplexen dynamischen Systemen erfassen. Okologische Systeme sind namlich komplexe offene Systeme von Pflanzen oder Tieren, die in gegenseitigen (nichtlinearen) Kopplungen (Metabolismus) mit ihrer Umwelt fern des thermischen Gleichgewichts leben. So kann die Symbiose zweier Populationen mit ihrer Nahrungsquelle durch drei gekoppelte Differentialgleichungen modelliert werden, die bereits Lorenz in der Meteorologie verwendete. Bekannt sind die nichtlinearen Wechselwirkungen einer Raubtier- und einer Beutetierpopulation, die von den italienischen Mathematikern Lotka und Volterra mit zwei gekoppelten Differentialgleichungen beschrieben wurden. Die Dynamik dieser gekoppelten Systeme hat stationare Gleichgewichtspunkte. Ihre Attraktoren sind periodische Oszillationen bzw. Grenzzyklen. Bei dissipativen Systemen kann die nichtlineare Populationsdynamik immer weiter vom thermischen Gleichgewicht fortgetrieben werden, bis irregulare Turbulenz und Chaos auftreten. In der Sprache der Tradition handelt es sich dabei um Beispiele der Emergenz von Turbulenz und Chaos.
Der menschliche Organismus ist ein komplexes zellulares System, in dem bestandig labile Gleichgewichte durch Stoffwechselreaktionen aufrecht erhalten werden mussen. Das Netzwerk der Stoffwechselreaktionen einer einzigen Leberzelle zeigt, wie ausbalanciert die lokalen Gleichgewichte sein mussen, um die globalen Lebensfunktionen zu garantieren. Die dabei auftretenden Ruckkopplungsschleifen von Zirkelkausalitaten entsprechen genau den gekoppelten nichtlinearen Gleichungen komplexer dynamischer Systeme. Gesundheit als medizinischer Ordnungsparameter des Organismus beschreibt eine Balance zwischen Ordnung und Chaos. Starre Regulation wurde verhindern, auf Storungen flexibel zu reagieren. So funktioniert unser Herz nicht wie eine ideale Pendeluhr. Seine nichtlineare Dynamik ist ein gut untersuchtes Anwendungsgebiet komplexer Systeme in der Medizin. Dazu wird das Herz als ein komplexes zellulares Organ aufgefasst. Elektrische Wechselwirkungen der Zellen losen Aktionspotentiale aus, die zu oszillierenden Kontraktionen (Herzschlag) als makroskopischen Mustern (,Ordnungsparametern') fuhren. Ein Elektrodiagramm ist eine Zeitreihe mit charakteristischen Mustern fur die Herzschlage. Um diese Dynamik zu studieren, mussen geeignete Kontrollparameter verandert werden. Dabei kann die Herzdynamik einen periodenverdoppelnden Kaskadenverlauf beginnen, der schlie?lich im Chaos als Zustand des Herzkammerflimmerns mundet. In der Sprache der Mathematik ware Herzkammerflimmern wieder ein Beispiel fur die Emergenz eines Makrozustands nichtlinearer Dynamik. Es gibt also unerwunschte und unkontrollierbare Emergenz. Sie la?t sich nur vermeiden, indem wir die kritischen Kontrollparameter, unter denen sie eintritt, kennen und vermeiden. Bei einer Verallgemeinerung dieses Befundes auf das menschliche Herz ist allerdings Vorsicht geboten. Viele Zeitreihenanalysen von Patienten zeigen andere Dynamiken. Wenn Herzschlage pro Minute oder Stunde untersucht werden, so schwankt zwar ihre Frequenz haufig unabhangig von der Zeitskalierung nach einem ahnlichen Muster. Kardiologen vermuten daher fraktale Strukturen. Konnte man sie eindeutig in EKG-Kurven bestimmen und deuten, waren Risikopatienten besser zu behandeln. Medizinische Diagnose komplexer Herzdynamik bedeutet aber nicht nur Erkennen von makroskopischen Ordnungsparametern und Attraktoren. Diese Aufgabe genauer Messungen und mathematischer Analyse ist haufig schwierig genug. Zudem mussen die gefundenen Ordnungsparameter der Herzdynamik und ihre Attraktoren medizinisch richtig gedeutet werden. Chaos bedeutet nicht notwendig Krankheit und Tod, Regularitat nicht Gesundheit. So zeigten Zeitreihen, Spektrum und Phasenportrait eines Patienten acht Tage vor Herzstillstand vollstandig regulares und periodisches Verhalten mit einem Stabilitatspunkt im Phasenraum. In der Kardiologie sind fachubergreifende Untersuchungen von Medizinern und Mathematikern notwendig, um komplexe Systeme als verlassliches Diagnoseinstrumentarium zu entwickeln. Eine der aufregendsten fachubergreifenden Anwendungen komplexer Systeme ist das menschliche Gehirn. Dazu wird das Gehirn als ein komplexes System von Nervenzellen (Neuronen) aufgefasst, die uber Synapsen elektrisch oder neurochemisch wechselwirken und sich zu Aktivitatsmustern ("cell assemblies") verschalten konnen. Die Dynamik von Gehirnzustanden lasst sich dann durch Gleichungen von (makroskopischen) Ordnungsparametern modellieren, die solchen neuronalen Verschaltungsmustern entsprechen. Bei EEG-Aufnahmen misst ein komplexes System von Elektroden lokale Gehirnzustande mit elektrischen Potentialen. Der Gesamtzustand eines Patienten mit Epilepsie auf der Mikroebene lasst sich durch lokale Zeitreihen an den Elektrodenorten bestimmen. Fur die makroskopische Dynamik konnte im numerischen Computermodell ein Chaosattraktor im Phasenraum nachgewiesen werden. Allerdings gilt auch fur die Diagnose komplexer Gehirndynamik, dass es in der Medizin nicht nur um das Erkennen makroskopischer Ordnungsparameter geht. Erforderlich ist ebenso eine geeignete medizinische Interpretation dieser Gro?en als Krankheits- oder Gesundheitszustande. Viele Neuronen sind nicht fest "verdrahtet" wie die Schaltelemente auf einem Computerchip. Ihre synaptischen Verbindungen lassen sich durch Lernregeln neurochemisch verandern. Dadurch entstehen synaptische Korrelationen (Aktivitatsmuster) im Gehirn, die wiederum Korrelationen von Au?enweltsignalen entsprechen. In PET (Positron-Emissions-Tomographie)-Aufnahmen des Gehirns lassen sich Schaltmuster bei unterschiedlichen Wahrnehmungen, Bewegungen, Emotionen und kognitiven Leistungen (z.B. Sprechen, Lesen, Rechnen) in Echtzeit beobachten. Die Lernregeln sind also die Selbstorganisationsverfahren eines komplexen neuronalen Systems, nach denen sich die Systemteile (Neuronen) unter geeigneten Nebenbedingungen von selbst zu Ordnungsmustern verbinden. Zu ihrer Erklarung reicht allerdings weder die thermodynamische Selbstorganisation aus Physik und Chemie noch die genkodierte Selbstorganisation in der Biologie aus. Nur die Moglichkeit des Lernens ist in hochentwickelten Organismen (wie z.B. dem Menschen) mit dem Aufbau eines Nervensystems genetisch vorgegeben. Was wir lernen, wie wir Probleme losen, wie sich unsere Gefuhle, Gedanken und Einstellungen entwickeln, ist genetisch nicht im Einzelnen vorgegeben. Beim Lernen haben wir es daher mit einer neuen Form der Selbstorganisation komplexer neuronaler Systeme zu tun. In der Sprache der nichtlinearen Dynamik konnte also das Auftreten von Gedanken, Gefuhlen, Bewu?tsein u.a. als Emergenz von makroskopischen Gehirnzustanden aufgefa?t werden, die nicht durch einzelne Neuronen, sondern durch ihre nichtlineare Wechselwirkung erklarbar werden. In Fortsetzung des bisherigen Forschungsprogramms wurde es sich wieder um Losungen nichtlinearer Differentialgleichungen handeln. Allerdings sind bisher nur niedrig-dimensionale Anwendungen wie das eben erwahnte Beispiel der Epilepsie in dieser Weise mathematisch untersucht. Ein Beispiel aus der Kognitionsforschung sind die Kippbilder der Gestaltpsychologie, die als Ganzheit spontan auftreten und nicht aus der Summe ihrer Pixel erklarbar sind. Jedenfalls zeichnet sich fur die Theorie komplexer Systeme und nichtlinearer Dynamik ein Forschungsprogramm ab, nach dem die Emergenz von Kognition als Losungen von Gleichungen zu verstehen ist, die komplexen Zustanden entsprechender Gehirndynamik entsprechen. Solche kognitiven Untersuchungen zeigen bereits, dass der Mensch als komplexer Organismus mit vielen ruckgekoppelten lokalen Gleichgewichten aufzufassen ist und nicht als auseinander- und zusammensetzbare Maschine nach dem Vorbild linearer Kausalitat. In der Medizin wurde daher bereits der Begriff der dynamischen Krankheiten eingefuhrt. Bei Patienten mit dynamischer Systemerkrankung ist der Korper nicht mehr in der Lage, physiologische Gleichgewichte selbststandig auszubalancieren und weitvernetzte Koordinationen zu ubernehmen. Auf der Makroebene sind neben dem Herzschlag die lebenserhaltenden Rhythmen der Atemfrequenz, der regelma?igen Verdauung, der Hormonzyklen oder des Menstruationszyklus zu erwahnen. Jeder von uns kennt mittlerweile den Jet-Lag als flugbedingte Zeitstorung des Wachen-Schlafen-Rhythmus. Die Ordnungsparameter dieser makroskopischen Ablaufe werden auf der Mikroebene durch viele biochemische Wechselwirkungen erzeugt, deren chemische Reaktionsgeschwindigkeiten aufeinander abgestimmt sind. Die Komplexitat des menschlichen Organismus ist von der organischen bis zur zellularen Ebene durch immer kleinere Zeitkonstanten bestimmt, deren lokale Storung globale Veranderungen des Organismus zur Folge haben konnen. Diese Zeitkonstanten vergro?ern sich von den Reaktionsgeschwindigkeiten biochemischer Prozesse uber Zellteilungszeiten, physiologische Perioden und Frequenzen bis zur Lebensdauer des gesamten Organismus. Viele dynamische Krankheiten erweisen sich daher auch als Zeitstorungen auf der Komplexitatsskala des Organismus. Letztlich ist ein Organismus in die komplexen Zeitrhythmen der Natur eingebettet. Die biochemischen Reaktionsgeschwindigkeiten hangen von den Zeitkonstanten der Chemie und Quantenphysik ab. Die organischen und physiologischen Kreislaufe hangen von der naturlichen Nahrungskette, der zivilisatorischen Umwelt und schlie?lich den gro?en kosmischen Rhythmen unseres Sonnensystems ab. Dynamische Systemerkrankungen bleiben aber nicht auf den somatischen Bereich beschrankt. Die Einsicht in die nichtlineare Kausalitat des Gehirns fuhrt zu neuen Erklarungsansatzen in der Psychiatrie. Philosophiehistorisch ist bemerkenswert, dass die Auffassung von der Natur als einer hierarchischen Skala immer komplexerer Phanomene von der "toten" zur "belebten" Materie auf die Antike zuruckgeht. Aristoteles spricht von einer "scala naturae" und beschreibt die "Selbstorganisation" (Autopoisis), die zur "Emergenz" neuer Phanomene fuhrt. Auf dem Hintergrund des damaligen Entwicklungsstands mathematischer Naturforschung (Euklidische Geometrie und Statik) konnte er sich allerdings nur qualitative Prozesse der Dynamik vorstellen. Heute verfugen wir uber mathematische Theorien nichtlinearer Dynamik, um viele dieser qualitativen Prozesse (wenigstens im Prinzip) auch mathematisch zu verstehen. Das ist keineswegs ein Physikalismus, also die Zuruckfuhrung von Kognitionsforschung, Biologie und Chemie auf Physik. Die mathematischen Methoden sind gegenuber der jeweiligen Anwendung und Interpretation der Grundbegriffe neutral. Hinzu kommt, dass auf der Stufe der Systemelemente der neue Systemzustand nicht erklarbar ist, sondern erst durch die Dynamik ihrer Wechselwirkung. Mathematisch sind die Ordnungsparameter eben makroskopische Gro?en, die im Sinne nichtlinearer Dynamik mehr sind als die Summe der Systemelemente. Auf dem Hintergrund dieser mathematischen Analyse war die philosophische Rede von der Emergenz in aristotelischer Tradition also durchaus richtig und der physikalische Reduktionismus ein Irrtum.
Die bisherigen Beispiele zeigen bereits, dass die Untersuchung von nichtlinearer Dynamik und Chaos in komplexen Systemen wesentlich auf den Computer angewiesen ist. Die Prinzipien der mathematischen Theorie waren bereits Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt. Aber erst Visualisierung und Computerexperimente mit heutiger Rechnertechnologie machen den Forschungsboom und die Popularitat verstandlich, die unser Forschungsgebiet heute auszeichnet. Bereits Leibniz (1714) formulierte die fur die Naturforschung folgenschwere Vision, wonach die mehr oder weniger komplexen Systeme der Natur als mehr oder weniger komplexe Automaten zu verstehen seien. In seiner Monadologie (� 64) hei?t es: "So ist jeder organische Korper eines Lebewesens eine Art von gottlicher Maschine oder naturlichem Automaten, der alle kunstlichen Automaten unendlich ubertrifft." Leibniz sieht eine Hierarchie von Komplexitatsgraden fur Automaten vor, die bis zu unendlichen Maschinen reichen. In moderner Lesart konnte man unter einer unendlichen Maschine eine Turing-Maschine mit unbegrenzten Speichermoglichkeiten (d.h. mit einem unendlichen Band) verstehen. Dann wurde Leibnizens Zitat in das Zentrum der modernen Artificial Life-Forschungen treffen: Sind dynamische Systeme von der Komplexitat lebender Organismen auf (universellen) Turing-Maschinen simulierbar? Der Zusammenhang zwischen dynamischen Systemen, wie sie in den Naturwissenschaften untersucht werden, und Automaten lasst sich jedenfalls mathematisch prazisieren. Wie in den vorherigen Abschnitten gezeigt wurde, ist die Dynamik eines komplexen Systems durch Differentialgleichungen mit kontinuierlichen Variablen und kontinuierlichem Zeitparameterbestimmt. Diskrete Vereinfachungen von atomaren, molekularen und zellularen Zustanden genugen haufig, um die hochgradige Nichtlinearitat einer Systemdynamik im Computermodell zu simulieren. Ein erfolgreicher Ansatz sind die zellularen Automaten. Der zellulare Automat simuliert nichtlineare Dynamik und Selbstorganisation im diskreten Modell. Analog zu den Phasenubergangen dynamischer Systeme und ihren Attraktoren wurden aufgrund von Computerexperimenten vier Klassen zellularer Automaten mit verschiedenen Komplexitatsgraden unterschieden. Automaten der 1. Klasse erreichen schon nach wenigen Schritten unabhangig vom Anfangszustand einen Gleichgewichtszustand, von dem ab alle Zellen in Zukunft z.B. wei? bleiben. Es handelt sich also um einen Fixpunktattraktor. Automaten der 2. Klasse erzeugen langere periodisch-konstante Muster. Veranderungen der Anfangsbedingungen haben nur geringen Einfluss. Automaten der 3. Klasse produzieren sehr lange komplexe Muster mit lokalen Strukturen, die an organische Formen erinnern und empfindlich auf geringste Veranderungen der Anfangsbedingungen reagieren. Automaten der 4. Klasse erzeugen wieder kurzere Muster, die aber in chaotisch-irregulare (,fraktale') Verteilung der Zellzustande ubergehen. Sie entsprechen also Chaos. Abweichend von Wolframs (1984) ursprunglicher Einteilung wurden die vier Automatenklassen in einer Reihenfolge genannt, die einen Phasenubergang von immer komplexer werdenden Strukturen bis zu Chaos nahelegt. Von komplexen dynamischen Systemen wissen wir, dass sich lebende Organismen einerseits von der Erstarrung in zuviel Ordnung im thermischen Gleichgewicht fernhalten mussen, aber andererseits auch nicht in zuviel Chaos auflosen durfen. Das wurde den Komplexitatsgraden von zellularen Automaten als Simulationen dynamischer Systeme entsprechen. Systeme fern des thermischen Gleichgewichts, aber am Rande des Chaos haben den hochsten Komplexitatsgrad. Systeme mit hochgradiger Regularitat wie z.B. Kristalle in der Nahe des thermischen Gleichgewichts oder Systeme mit chaotischer Irregularitat wie Molekule in einem Gas haben geringe Komplexitat. Lebende und lernende Organismen wie das hochstrukturierte Molekulsystem der DNA oder das hochausdifferenzierte menschliche Gehirn hatten die hochsten bekannten Komplexitatsgrade fern von der Erstarrung der Systeme der 1. Klasse, jenseits auch der periodischen Oszillationen der 2. Klasse wie z.B. bei der BZ-Reaktion, aber im kritischen Phasenubergang der 3. Klasse am Rande des Chaos der 4. Klasse. Zellulare Automaten konnen aus einfachen Anfangsmustern mit eindeutig definierten Regeln vollig zufallige komplexe und irregulare Muster erzeugen, deren Evolution im Detail durch kein endliches Programm vorausgesagt ist. Wie bei Turings Stop-Problem mussen wir dann im Computerexperiment abwarten, wie sich das System entwickelt und konnen nicht im vorhinein entscheiden, wann oder ob es uberhaupt halt. Diese Eigendynamik komplexer Systeme hat zentrale erkenntnistheoretische Bedeutung, denn es trifft konsequenterweise auf alle dynamischen Systeme zu, die wenigstens so komplex sind wie ein entsprechender zellularer Automat. Insbesondere werden wir bei entsprechenden biologischen Systemen mit solchen Eigendynamiken rechnen mussen. In der biologischen Evolution kam nach der zellularen die neuronale Selbstorganisation. Im Laufe von Millionen von Jahren wurden unterschiedliche komplexe neuronale Netzwerke und Lernverfahren entwickelt und ausgetestet. Seit einigen Jahren untersucht die Neuroinformatik diese Bau- und Lernverfahren der Natur, um sie als Blaupausen fur lernfahige technische neuronale Netze zu nutzen. Bereits Anfang der achtziger Jahre konstruierte der Festkorperphysiker J. Hopfield ein einschichtiges Netz von wechselwirkenden Neuronen, das wie ein physikalisches System (z.B. Ferromagnet ) mit einer konstant abnehmenden Energiemenge verstanden werden kann. Um in einem Bild die Dynamik des Netzwerks zu veranschaulichen: Die einzelnen Neuronen gleichen einzelnen Menschen in einer Versammlung, die zunachst ,energiegeladen' untereinander eine temperamentvolle Diskussion mit vielen Einzelmeinungen fuhren, um sich schlie?lich im Gleichgewichtszustand einer mehrheitlichen Entscheidung zu beruhigen, indem sich gewisserma?en die hitzigen Gemuter abgekuhlt haben. Die Dynamik des Hopfield-Systems ist dem Spinglas-Modell nachgebildet. Die energetische Wechselwirkung der magnetischen Atome mit zwei Spinzustanden (,up' und ,down') wird nun als Wechselwirkung binarer Neuronen mit zwei Zustanden (,schwarz' und ,wei?') aufgefasst. Dazu stellen wir uns ein schachbrettartiges Gitternetz aus binaren Neuronen vor. Ein Muster (z.B. der Buchstabe A) wird im Gitternetz durch schwarze Punkte fur alle aktiven Neuronen und wei?e Punkte fur inaktive Neuronen dargestellt. Die Prototypen der Buchstaben werden zunachst dem System ,eintrainiert', d.h. sie werden mit den lokalen Energieminima im Potentialgebirge des neuronalen Zustandsraums verbunden. Die Neuronen sind mit Sensoren ausgestattet, mit denen ein Muster wahrgenommen wird. Bieten wir nun dem System ein verrauschtes und teilweise gestortes Muster des eintrainierten Prototypen an, dann kann es den Prototypen in einem Lernprozess wiedererkennen. Der Lernprozess geschieht durch lokale Wechselwirkungen der einzelnen Neuronen nach den Hebbschen Lernregeln. Sind zwei Neuronen zur gleichen Zeit entweder aktiv oder inaktiv, so wird die synaptische Kopplung verstarkt. Bei unterschiedlichen Zustanden werden die synaptischen Gewichte verkleinert. Der Lernprozess wird so lange durchgefuhrt, bis der gespeicherte Prototyp erzeugt ("wiedererkannt") ist. Der Lernprozess entspricht also einem Phasenubergang zu einem Punktattraktor, der wie in einem Ferromagneten nahe dem thermischen Gleichgewicht ohne Zentralsteuerung durch Selbstorganisation geschieht. Hopfield-Systeme arbeiten zwar parallel, aber determiniert. Der Lernprozess kann daher in einem Tal des Potentialgebirges stecken bleiben, das nicht das tiefste im gesamten .Netz ist. Hat z.B. eine Kugel ein Tal erreicht, dann lautet ein naheliegender Vorschlag, das gesamte System ein wenig zu schutteln, damit die Kugel das Tal verlassen kann, um niedrigere Minima einzunehmen. Starke oder schwache Schuttelbewegungen verandern die Aufenthaltswahrscheinlichkeit einer Kugel wie bei einem Gasmolekul, dessen Kollisionen durch Druck- und Temperaturveranderungen beeinflusst werden. Bei solchen probabilistischen Netzwerken spricht man daher auch nach dem Begrunder der statistischen Mechanik und Thermodynamik von Boltzmann-Maschinen. Sie haben eine gro?ere Nahe zu biologischen neuronalen Netzen, da sie sich als fehlertolerant gegenuber kleinen Storungen wie das menschliche Gehirn z.B. bei kleineren Unfallschaden erweisen. Neuronale Netze nach dem Spinglasmodell sind an der konservativen Selbstorganisation komplexer Systeme nahe dem thermischen Gleichgewicht orientiert. Im Vordergrund steht die technisch erfolgreiche Losung von Problemen, nicht die Modellierung des Gehirns. Das Gehirn ist namlich ein lebendes System fern vom thermischen Gleichgewicht. Synergetische Computer orientieren sich daher an der dissipativen Selbstorganisation fern des thermischen Gleichgewichts. An die Stelle der ,Hidden Units' der Zwischenschicht treten Ordnungsparameter zur Charakterisierung makroskopischer Schaltmuster der Outputneuronen. In der nichtlinearen Wechselwirkung der Ordnungsparameter setzt sich i.a. einer durch und dominiert die makroskopische Dynamik. Solche Systeme erbringen teilweise Leistungen von Gehirnsystemen wie z.B. dem visuellen Cortex bei der Mustererkennung oder dem assoziativen Gedachtnis. Bis in die 90er Jahre galten neuronale Netze und zellulare Automaten nur als Modelle, die letztlich auf die Simulation mit konventionellen Computern angewiesen sind. Die technische Revolution in der Entwicklung von Mikroprozessoren und Sensoren macht es moglich, sie zu bauen. Offenbar arbeiten menschliche und tierische Gehirne nicht nur auf der digitalen Basis feuernder und nicht-feuernder Neuronen, sondern auch aufgrund analoger Signalverarbeitung von Sensorzellen. Wahrnehmungsorgane nehmen kontinuierliche Tast-, Warme-, Schall- oder Lichtreize war, die technisch analoger Signalverarbeitung mit Sensoren entsprechen. Analoge zellulare Computer verbinden analoge und digitale Informationsverarbeitung. Auf Chipgro?e miniaturisiert erreichen sie heute bereits die Leistung von Supercomputern. Wenn wir berucksichtigen, dass Chips uberall in unserer Umwelt verteilt sind (und sein werden), ahnen wir die zentrale Rolle, die analoge zellulare Computer sich anschicken, in unserer Lebenswelt einzunehmen. Als Beispiel betrachten wir zellulare neuronale Netze, die wegen der englischen Bezeichnung "Cellular Neural Network" als CNN abgekurzt werden und auf eine patentierte Erfindung der amerikanischen Ingenieure und Informatiker Leon O. Chua und Lin Yang (1988) zuruckgehen. Wie ein zweidimensionaler zellularer Automat besteht die Architektur eines zellularen neuronalen Netzes (CNN) aus einem schachbrettartigem System von Zellen. Es gibt auch dreidimensionale Architekturen von zellularen Automaten und CNNs mit wurfelformigen Anordnungen wie in neuronalem Gewebe. Im Unterschied zu zellularen Automaten sind die Zellen eines CNN aber mit Sensoren ausgestattete Prozessoren, die Analogsignale empfangen und verarbeiten konnen. Wie die Neuronen eines neuronalen Netzes ist jede Zelle eines CNN durch ihren Zustand, Input, Output und Schwellenwert bestimmt. Der Zustand einer CNN-Zelle andert sich wie bei einem zellularen Automaten und einer neuronalen Merkmalskarte nach T. Kohonen in Abhangigkeit von den lokalen Zellzustanden in einer vorgegebenen Umgebung bzw. Einflu?sphare der Zelle. Im Unterschied zu Hopfield-Systemen, die von einer globalen Vernetzung aller Zellen untereinander ausgehen, gibt es also in einem CNN nur lokale Einflu?spharen, uber die Zellen kommunizieren. In elektronischen Schaltkeisen von zellularen Chips sind lokale Vernetzungen nach dem Vorbild des menschlichen Gehirns realisierbar. Im Unterschied zu zellularen Automaten andern sich die Zellzustande aber nicht digital, sondern stetig und tragen damit analoger Signalverarbeitung Rechnung. Ein kognitives Anwendungsbeispiel sind die bekannten Kippbilder der Gestaltpsychologie, bei denen man spontan z.B. eine symmetrische Vase oder zwei diametrale Gesichter erkennt. Welche der beiden Moglichkeiten zuerst als Gestalt erkannt wird, hangt davon ab, welchem Detail des Bildes zuerst Aufmerksamkeit geschenkt wird und ob es als Hintergrund oder Teil der Gestalt bewertet wird. Analog arbeitet die Erkenntnisstrategie des CNN-Chip: Je nachdem, wo auf dem Input-Bild welches Pixeldetail markiert wird, antwortet der CNN-Chip auf dem Output-Bild mit einer alternativen Farbung von Gestalt und Hintergrund, um die jeweilige Gestalt hervorzuheben. Im Gehirn baut sich aus dem Pixeldetail die gesamte Gestalt auf. Ein entsprechender Aufmerksamkeitsparameter spielt also die Rolle eines Ordnungsparameters, der die Makrodynamik dominiert. Gestalterkenntnis ist nun das Ergebnis einer nichtlinearen Dynamik. Ihre Emergenz ist die Losung einer entsprechen nichtlinearen Differentialgleichung. Welche von zwei moglichen Gestalten eines Kippbildes erscheint, hangt von einer Bifurkation in einem kritischen instabilen Zustand der Wahrnehmung ab. Es handelt sich um eine Symmetriebrechung eines labilen Gleichgewichts. Das ist insofern erkenntnistheoretisch bemerkenswert, als die Gestaltpsychologen des letzten Jahrhunderts eine "physikalische" Erklarung bestritten hatten. Tatsachlich ist eine Gestalt ein kollektives Muster, das nicht in die (lineare) Summe seiner Pixels zerfallt. Der Vorbehalt der Gestaltpsychologen gilt also nur, wenn man sich auf die lineare Kausalitat beschrank. Prinzipiell lasst sich nicht ausschlie?en, dass Chips dieser Art eines Tages die nichtlineare Gehirndynamik simulieren konnen. Ist damit das Gehirn berechenbar und die Willensfreiheit des Einzelnen ad absurdum gefuhrt? Tatsachlich entsprechen unsere Gedanken, Gefuhle und Bewusstseinszustande neuronalen Verschaltungsmustern des Gehirns, die durch entsprechende Ordnungsparameter charakterisierbar sind. Aus der Theorie zellularer Automaten wissen wir aber, dass solche Automaten eine Eigendynamik entwickeln konnen, die eine Vorausberechnung im Detail ausschlie?t. Wenn wir ein Computermodell ahnlich dem Gehirn gebaut hatten, mussen wir also damit rechnen, dass es ahnlich wie ein biologisches Gehirn "eigenwillige" Dynamiken entwickeln konnte. Wir hatten dann zwar ein Computermodell des dynamischen Systems �Gehirn', das aber nicht berechenbar und entscheidbar ist. Das ist eine Folge nichtlinearer Kausalitat komplexer dynamischer Systeme. Gehirne treten in der Natur nicht isoliert auf, sonder haben sich in nichtlinearen Populationsdynamik entwickelt. In der biologischen Evolution haben sich Kommunikationssysteme von Tierpopulationen herausgebildet. Sie reichen von neurochemischen Signalen in Insektenpopulationen bis zum artikulierten Gesang von Vogeln. Primaten, die mit Asten Alarm schlugen, benutzten erstmals Werkzeuge zur Nachrichtenubertragung. Nach Trommeln, Rauchzeichen, Morsen und Telefonnetzen kommunizieren wir heute in Computernetzen wie dem Internet. Es ist mittlerweile das Nervensystem einer globalisierten Welt, in der wir Nachrichten in Echtzeit (d.h. mit Lichtgeschwindigkeit) austauschen. Das Internet zerfallt aber nicht nur in die Summe einzelner vernetzter Computer. Mit plattformunabhangigen Computersprachen wie z.B. Java ist das Netz selber ein gigantischer Computer, in dem die Menschheit wie in einem Supergehirn ihre Dokumente speichert und multimedial animiert. Wie ein Nervensystem ist das Internet tatsachlich bereits bis zu einem bestimmten Grad ein komplexes sich selbst organisierendes Informationssystem, in dem keine zentrale Leitungsvermittlung stattfindet. Die Informationsflut in komplexen Informations- und Kommunikationssystemen wie dem Internet kann von einzelnen Nutzern nicht mehr kontrolliert und bewaltigt werden. Dazu bedarf es intelligenter Informationsfilter, Koordinations- und Kooperationsprogramme, die im Netz verteilt den Interessen der Nutzer entsprechend agieren. Als mobile und intelligente Programme im Netz konnten solche virtuellen Dienstleister (�Agenten') untereinander kooperieren und nutzliche Informationen austauschen, die verschiedenen Nutzern helfen. In der Natur trat ein solches kooperatives Kommunikationsverhalten bei Insektenpopulationen auf, die gemeinsam kollektive Leistungen wie den Bau von kunstvollen Termitenbauten oder verzweigten Ameisenstra?en organisierten, von denen das einzelne Tier keine Vorstellung hat. In der Soziobiologie spricht man daher von Schwarmintelligenz, die erst durch Kooperation und Kommunikation der Population entsteht. Im elektronischen Medium werden Kommunikationsmuster erzeugt, deren Ordnungsparameter das Verhalten einzelner Agenten pragen. Ende der 80er Jahre prophezeite M. Weiser von der Firma Xerox den Trend zu einer telematisch vernetzten Gesellschaft, in der eine Vielzahl von einfachen Endgeraten den Alltag der Menschen unterstutzen. Er pragte dafur die Bezeichnung vom Ubiquitous Computing. Informations- und Kommunikationstechnologie ist aber erst dann �ubiquitar' (d.h. uberall verbreitet), wenn ihre Verbindung an Standardrechner wie PCs und Laptops uberwunden wird und die gebundelten Funktionen eines Computers in die eigentlichen Anwendungen zuruck verlagert werden. Kunstliche Intelligenz steckt dann weniger hoch konzentriert in einem Gerat, sondern in der Vernetzung einer Infrastruktur von verschiedenen Geraten, die eine intelligente Nutzerumgebung schaffen. Intelligenz entsteht daher in der nichtlinearen Interaktion dieser Infrastruktur mit dem Menschen. Unterhalb der Leistung eines PC verbreiten sich mittlerweile Smart Devices mit geringem Energieverbrauch in intelligenten Umgebungen unseres Alltags. Beispiele sind �Tabs', �Pads' und �Boards': Zentimetergro?e Gerate fur kurze Nachrichten, Folien in der Gro?enordnung von Papierseiten, handliche E-Bucher oder E-Zeitungen und Displays in der Gro?e von Tafeln oder Pinwanden. Diese Tabs, Pads und Boards signalisieren das beginnende Zeitalter von Ubiquitous Computing. Ziel von Ubiquitous Computing ist aber auch eine telematisch vernetzte Medizin, die medizinische Diagnose, Behandlung und Verwaltung durch Global Networking im Internet zu optimieren versucht. Computergestutzte Kommunikation wird in Krankenhausern (Intranet), zwischen Krankenhauser, Facharzten, Hausarzten und Patienten (Internet) eingesetzt. In der Unfallmedizin und Akutmedizin kann die interdisziplinare Vernetzung in Echtzeit lebensrettend sein. Nichtlineare Kausalitat eroffnet auch die Moglichkeit, Selbstorganisationseigenschaften organischer Systeme in der Technik zu ubernehmen. Man spricht bereits vom Organic Computing, in dem autonome Einheiten komplexer technischer Systeme Selbstdiagnose und Selbsttherapie bei Fehlfunktionen ermoglichen. Allerdings zeigen die bisherigen Beispiele, dass nicht nur gewunschte, sondern auch chaotische und unkontrollierbare Phanomene (z.B. Krankheiten wie Krebs) sich selber in nichtlinearer Dynamik aufschaukeln konnen. Es kommt darauf an, die kritischen Werte entsprechender Kontrollparameter zu erkennen und diese Art von Emergenz im Vorfeld zu vermeiden. Eine der zentralen Herausforderungen der Automobilhersteller der Zukunft ist die Beherrschung zunehmender Komplexitat elektronischer Systeme im Automobil. Wer die elektronischen Kabelsysteme in Automobilen von ihren Anfangen bis heute betrachtet, kann sich der frappierenden Ahnlichkeit mit den Nervensystemen immer komplexer werdender Organismen der Evolution nicht erwehren. Im Unterschied zur biologischen Evolution sind heutige elektronische Systeme aber weitgehend starr, kompakt und unflexibel, so dass kleinste Fehler das gesamte System zum Zusammenbruch fuhren konnen. In einer evolutionaren Architektur wird daher das Nervensystem eines Automobils wie in der Natur in viele autonome Einheiten (Carlets) zerlegt, die sich in einem Selbstorganisationsprozess zu kooperativen Funktionsgruppen zusammenschlie?en, um kollektiv intelligente Leistungen zu realisieren. Beispiele solcher Leistungen reichen von der komplexen Funktionalitat des Motors, Verkehrsleit- und Sicherheitssystems uber Klima- und Sitzverstellung bis zu den wachsenden Anspruchen des Entertainment. Bei Verletzungen und Ausfallen in lebenden Organismen (z.B. Unfall, Schlaganfall, Krankheit) ist Selbstheilung und flexible Umstellung eine lebenswichtige Fahigkeit, die durch Kooperation autonomer Einheiten wie Organteile, Gehirnareale u.a. ermoglicht werden. Wenn im Automobil z.B. eine autonome Einheit "Lampe" ausfallt, dann suchen andere autonome Einheiten, die bisher auf die defekte Lampeneinheit zugegriffen haben, selbstandig nach Ersatz. Sie arrangieren sich mit anderen Einheiten so, dass lebenswichtige Funktionen auf alle Falle erhalten bleiben. Dieser Vorgang ist dem Heilungsvorgang bei Lebewesen sehr ahnlich und wird deshalb in der evolutionaren Fahrzeugarchitektur als Selbstheilungsmechanismus bezeichnet. Ebenso reagiert das System beim Entfernen eines Gerates (z.B. Telefon) oder der Hinzunahme (Nachrusten) einer Funktion oder Fahrzeugkomponenten. Weitere "Self-X-Eigenschaften" des Systems sind Selbstkonfiguration, Selbstadaption und Selbsterklarung: Selbstkonfiguration meint die Fahigkeit, Elemente durch Selbstorganisation so anzuordnen, dass eine gewunschte Problemstellung mit dieser Anordnung gelost werden kann. Selbstadaption erlaubt die Feinregulierung von Konfigurationen, wenn sich z.B. au?ere Bedingungen wie Fahrer und Fahrzeugumwelt andern. Selbstdiagnose ermoglicht die Uberprufung der eigenen Funktionsweise, die Erkennung von Fehlern und Ausfallen. Selbsterklarung beschreibt eine intuitiv verstandliche Interaktion zwischen Fahrer und Automobil, die dem Fahrer Eigenschaften, Funktionalitat und aktuellen Zustand des Systems erklart.
Das Zentralnervensystem lasst sich als komplexe Population von Neuronen auffassen, zwischen denen Signale und Nachrichten transportiert werden. Entscheidend ist dabei, dass neuronale Systeme nicht zentralgesteuert und programmiert wie ein klassischer von-Neumann-Computer sind. Auch bei Tierpopulationen konnen komplexe nichtlineare Systeme zur Selbstorganisation von Ordnungszustanden fuhren, ohne dass sie zentral gesteuert werden. Ein lehrreiches Beispiel sind staatenbildende Insekten wie z.B. Ameisen. Ameisenstaaten scheinen auf den ersten Blick ein deterministisches System zu bilden, in dem die Aktivitaten der einzelnen Ameisen programmgesteuert ablaufen. Bei naherer Beobachtung jedoch fuhren die einzelnen Insekten viele Zufallsbewegungen (Fluktuationen) aus, wahrend die Gesamtorganisation hochgradige Ordnungsstrukturen besitzt, die sich allerdings spontan andern konnen. Eine stabile Ordnungsstruktur kann z.B. ein Spurennetz sein, das Ameisen von ihrem Nest zu Nahrungsquellen ihrer Umwelt aufbauen. Diese Transportnetze sind zugleich Signalnetze, in denen die einzelnen Tiere uber chemische Botenstoffe kommunizieren. Der gesamte Schwarm kann also mehr als das einzelne Tier. Man spricht daher auch von Schwarmintelligenz. Tatsachlich wird dieses Potential einerseits durch die Wechselwirkungen der Tiere erzeugt, andererseits wirkt es auf sie zuruck. Wir beobachten also wieder die typische Ruckkopplung zwischen Mikro- und Makroebene eines komplexen Systems, die Selbstorganisation und Emergenz von Ordnung moglich macht. Das Potential des Schwarms druckt sich konkret in der Verteilung chemischer Signalstoffkonzentrationen zwischen den einzelnen Tieren aus, analog der Verteilung von Neurotransmittern zwischen den Neuronen des Gehirns, und kann durch entsprechende Ordnungsparameter charakterisiert werden. Eine Nahrungsquelle ist ein Beispiel fur einen Attraktor der Populationsdynamik, in dem das System vorubergehend im Gleichgewicht mit seiner Umwelt ist. Wird durch zufallige Fluktuationen einzelner Tiere eine zweite Nahrungsquelle entdeckt, kann das alte Spurennetz instabil und ein neues aufgebaut werden. Das System schwankt zwischen zwei Attraktoren als zwei moglichen Zielzustanden, bis es zum Symmetriebruch kommt und sich ein Attraktor in einer Bifurkation durchsetzt. Mit Blick auf die Kulturgeschichte ist es naheliegend, auch die Entwicklung menschlicher Gesellschaften als Dynamik komplexer Systeme zu verstehen. Jager-, Bauern- und Industriegesellschaften breiten sich wie Wetterfronten auf geographischen Karten aus. Schon bei der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts bilden Stra?en- und Eisenbahnnetze das Nervensystem der sich ausbreitenden Nationalstaaten. In Computermodellen la?t sich die Dynamik von Stadtentwicklungen studieren. Wir beginnen mit einer nahezu gleichma?ig bewohnten Region. Sie wird auf einem schachbrettartigen Netz von Orten simuliert, an denen die sich verandernden Bevolkerungskonzentrationen im Laufe der Zeit dargestellt sind. Die Orte sind durch Funktionen verbunden, in denen ihre industrielle Kapazitat, Verkehrsverbindungen, aber auch ihr Freizeit- und Erholungswert zum Ausdruck kommen. Eine Populationsgleichung modellierte die nichtlineare Dynamik der Besiedlung, die sich in neuen Stadtzentren, Industriegebieten, Ballungszonen, Veranderungen des Verkehrsnetzes zeigte. Hier setzt das Modellierungskonzept der Soziodynamik an. Methodisch wird dazu die Mikroebene individueller Entscheidungen einzelner Menschen von der Makroebene kollektiver Prozesse unterschieden. Die probabilistische Kollektiventwicklung wird durch eine Mastergleichung fur gesellschaftliche Makrozustande (,Soziokonfigurationen') modelliert. Jede Komponente einer Soziokonfiguration bezieht sich auf eine Teilpopulation mit einem charakteristischen Verhaltensvektor. In Computergraphiken konnen die sich verandernden Wanderungsstrome zweier Populationen wie in einer Flussdynamik als unterschiedliche Attraktoren (,Ordnungsparameter') dargestellt werden - von Ghettobildungen (,Punktattraktoren') uber oszillierende bis zu chaotischen Zustanden. Wir konnen zwar auf der Mikroebene keine individuellen Entscheidungen voraussehen. Auf der Makroebene lassen sich aber mogliche Szenarien kollektiver Trendentwicklungen unter bestimmten Nebenbedingungen (,Kontrollwerten') simulieren. Wiederum wird keine neuartige Kausalitat zugrunde gelegt. Es handelt sich auch bei sozialen Systemen um eine nichtlineare Dynamik komplexer Systeme. Allerdings verfugen wir in der Regel uber keine Bewegungsgleichungen fur das individuelle Verhalten der Systemelemente auf der Mikroebene. Menschen sind keine Molekule oder Zellen. Dennoch erzeugen z.B. ihre politischen Praferenzen kollektive Wahltrends, die ahnlich wie Stromungsmuster auf das Wahlverhalten des Einzelnen zuruckwirken. Man konnte daran denken, auf der Mikroebene Gleichungen individueller Gehirndynamik zugrunde zu legen. Allerdings ware dieser Ansatz wegen der Komplexitat solcher Gleichungen nicht praktikabel. Daher arbeiten Sozialwissenschaften auf der Makroebene mit statistischen Verteilungsfunktionen, deren Dynamik mit stochastischen Gleichungen modelliert wird. Bereits Adam Smith (1723-1790), der Vater der Marktwirtschaft, ging vom Selbstorganisationsprozess eines komplexen Wirtschaftssystems aus, in dem Angebot und Nachfrage von Produkten zwischen Firmen und Konsumenten die wirtschaftliche Dynamik bestimmen. Dazu nahm Smith einen "naturlichen" Preis an, der sich aus dem Arbeitswert eines Produkts ergibt. Wenn der Marktpreis gro?er als der naturliche Preis wird, ist die Profitrate hoch, so dass sich die Produktion ausweitet und damit zur Preissenkung fuhrt. Die umgekehrte Bewegung tritt ein, wenn der Marktpreis kleiner als der naturliche Preis ist. Durch Gewinnchancen und Verlustrisiken steuert sich also das Marktsystem selbst und strebt einem absoluten Gleichgewichtszustand von Angebot und Nachfrage zu. Smith unterstellte also eine konservativer Selbstorganisation, durch die sich im okonomischen Gleichgewicht der soziale Ordnungszustand einer Gesellschaft ("Wealth of Nation") von selbst wie durch eine unsichtbare Hand ("invisible hand") gelenkt einstellt. Tatsachlich lassen sich aber okonomische Systeme nicht mit der konservativen Selbstorganisation von Kristallen und Festkorpern nahe dem thermischen Gleichgewicht vergleichen. Als offenes System, das in standigem Stoff-, Energie- und Informationsaustausch mit anderen Markten und der Natur steht, kann Marktwirtschaft keinem Gleichgewichtszustand "naturlicher" Preise zustreben. Analog wie ein biologisches Okosystem wird sie in standiger Veranderung begriffen sein und empfindlich auf geringste Veranderungen der Randbedingungen reagieren. Zudem sind die Agenten eines Wirtschaftssystems lernfahige Menschen. Kurzfristige Schwankungen von Konsumentenpraferenzen, unflexibles Reagieren im Produktionsverhalten, aber auch Spekulationen auf Rohstoff- und Grundstucksmarkten liefern Beispiele fur sensible Reaktionen im Wirtschaftssystem. Dass Fluktuationen im kleinen sich zu Wachstumsschuben im gro?en selbst organisieren konnen (z.B. technische Innovationen wie Webstuhl und Dampfmaschine in der industriellen Revolution), andererseits aber zu chaotischem und unkontrollierbarem Verhalten aufschaukeln konnen (z.B. Borsenkrach, Massenverelendung, Arbeitslosigkeit), ist eine historische Erfahrung der Jahrhunderte nach Adam Smith. Bemerkenswert ist, dass Karl Marx die Selbstorganisation einer Marktwirtschaft exakt erkannt hatte. Seine kritische Analyse zeigt die Phasenubergange auf, in denen sich okonomische Systeme krisenhaft entwickeln und gesellschaftliche Strukturen verandern. Bereits Hegel hatte mit seiner dialektischen Methode historische Entwicklungsprozesse erklart. Vom Standpunkt komplexer dynamischer Systeme ist die Analyse von historischen Phasenubergangen bei Marx realistisch. Er erkennt, dass die Selbstorganisation okonomischer Krafte nicht automatisch zum Wohlstand einer Gesellschaft und zur Wohlfahrt seiner Bevolkerung fuhrt. Der Fehler vieler seiner Nachfolger besteht allerdings darin, dass man als Konsequenz die Selbstorganisation des Marktes abschaffen wollte, um sie durch eine zentralistisch gesteuerte Verteilungsmaschine zu ersetzen. Das ware aber so, als wollte man die Evolutionsgesetze abschaffen. Marx erkennt also richtig die nichtlineare Dynamik okonomischer Systeme, will sie aber durch eine lineare Dynamik im Sinne des Laplaceschen Geistes ersetzen. Dazu mu? ein neuer Mensch angenommen werden, der nicht nach seinem eigenen Profit strebt, sondern die gesellschaftlichen Interessen erkennt und danach handelt. Das ist aber eine unrealistische Annahme der menschlichen Natur. Ebenso gehen aber Adam Smith und die okonomischen Klassiker von einer idealistischen Annahme uber den Menschen aus. Der "homo oeconomicus", der mit vollstandiger Information uber seine Umwelt nur seinen eigenen Nutzen maximiert, ist eine mathematische Fiktion linearer Gleichgewichtsdynamik. Ein nichtlineares Modell zeigt, wie sich der Wettbewerb zwischen zwei konkurrierenden Produkten bei positiver Ruckkopplung unter der Bedingung zunehmender Ertrage durch geringste Anfangsfluktuationen entscheidet. Geringste Marktvorteile in der Anfangsphase konnen dazu fuhren, dass sich eine Technologie immer leichter und deutlicher durchsetzt, ohne dass diese Entwicklung am Anfang vorausgesagt werden konnte. Selbst wenn ein technischer Standard wie z.B. ein Computerbetriebssystem nicht die beste Losung unter fachlichem Gesichtspunkt war, kann sie sich global auf diesem Weg durchsetzen. Wissenschaftshistorisch ist bemerkenswert, dass der "Schmetterlingseffekt" in der Wirtschaft bereits 1890 von dem englischen Okonomen A. Marshall erwahnt wurde - also etwa in der Zeit, als Poincare die Nichtlinearitat der Himmelsmechanik herausstellte. Marshall zeigte, wie ein Unternehmen, das rein zufallig fruh einen hohen Marktanteil erreicht, seine Konkurrenten uberflugeln kann, wenn die Produktionskosten mit zunehmenden Markanteilen fallen. Daraus folgt: Wir mussen fruhzeitig die Ordnungsparameter erkennen, die eine Dynamik dominieren konnten. Es geht also um die Entwicklung okonomischer Fruhwarnsysteme. Das ist ahnlich wie bei Krankheiten eines Organismus oder der Wettervorhersage. In beiden Beispielen handelt es sich auch um nichtlineare Dynamik komplexer Systeme. Aus Krankheitssymptomen und Wetterdaten kann durch verschiedene mathematischen Methoden (z.B. Zeitreihenanalyse, Attraktorenbestimmung im Phasenraum, Lyapunov-Exponenten) ein zukunftiger Trend erkannt werden. Bei okonomischen und sozialen Prozessen handelt es sich allerdings um hochdimensionale Systeme vieler Komponenten, bei denen die Rechenkapazitaten unserer Computer heute noch unzureichend sind, um Trends genau zu bestimmen. Vom mathematischen Standpunkt sind Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften schwieriger als die Naturwissenschaften, da ihre Modelle komplexer sind. Aber auch qualitative Einsichten im Umgang mit nichtlinearer Dynamik sind wertvoll und bewahren uns vor Uberraschungen. Jedenfalls sollten wir sensibel fur die empfindlichen Gleichgewichte in Natur und Gesellschaft werden. Krisenmanagement kommt zu spat, wenn bereits Chaosattraktoren herrschen. Wir benotigen Komplexitatsmanagement nichtlinearer Dynamik.
Management der Zukunft findet unter den Bedingungen von Komplexitat statt. Komplexitat erzeugt nichtlineare Dynamik. Daher werden Konsequenzen nichtlinearer Dynamik fur das Komplexitatsmanagement von Unternehmen und Verwaltungen untersucht. In unsicheren und unubersichtlichen Informationsraumen entscheiden Menschen auf der Grundlage beschranker Rationalitat und nicht des "homo oeconomicus". Beschrankte Rationalitat entspringt der durch Unvollstandigkeit und Ungenauigkeit bestimmten menschlichen Wahrnehmung von Problemen und Situtationen. Beschrankte Rationalitat steht daher im Zentrum moderner Kognitionsforschung und Philosophie. Ihre Ergebnisse mussen in das Management einflie?en, um Unternehmen und Verwaltungen vor falschen Rationalitatsmodellen zu bewahren. Weltweite Informations- und Kommunikationsnetze uberschreiten Landergrenzen und beschleunigen die Globalisierung. Wir sprechen daher auch von der Informations- und Wissensgesellschaft, in der die klassische rohstoffabhangige Industriegesellschaft ablost wird. Dienstleistungen auf der Grundlage von Wissen und Knowhow werden wichtiger als die Steigerung von Tonnenzahlen. Die Antwort der Technik auf Komplexitatssteigerung ist starkere Selbstorganisation von Computer-, Informations- und Kommunikationssystemen, die nicht mehr zentral steuerbar sind. In der Informations- und Wissensgesellschaft bestimmen Wissen und Konnen der Menschen die Produktivitat und Konkurrenzfahigkeit eines Landes. Daher geht es um konkrete Ma?nahmen, um die Kreativitatspotential von Unternehmen und Verwaltungen zu fordern. Sie sind der Kern der Wertschopfung von Unternehmen in der Wissensgesellschaft. Unter den Bedingungen von Komplexitat und Globalisierung werden Mitarbeiter in Unternehmen mit vernetzten Problemen konfrontiert. Neben Problemlosungskompetenz sind daher gefordert: Systemdenken und Systemverstandnis, Interdisziplinaritat und interkulturelles Verstandnis, Sozialkompetenz fur die Teamarbeit mit beschrankter Rationalitat des einzelnen. Unter den Bedingungen labiler und instabiler Gleichgewichte bedarf es zudem langfristiger Wertorientierung. Komplexitatsmanagement der Zukunft mu? dazu den Menschen in den Mittelpunkt nichtlinearer Unternehmensdynamik stellen und seiner Natur Rechnung tragen. Das gelingt nur, wenn sie auf den Ergebnissen von Kognitions- und Systemforschung, Philosophie und Ethik aufbaut. Welche Talente und Eigenschaften von Mitarbeitern sind erforderlich, um in der Dynamik von Arbeitsmarkten und Unternehmen bestehen zu konnen? Wie finden Unternehmen geeignete Mitarbeiter, betreuen sie und bereiten sie auf die sich standig verandernden Arbeitsbedingungen vor? Dazu benotigen wir die Gesetze komplexer dynamischer Systeme und ihre Konsequenzen fur das Komplexitatsmanagement von Unternehmen. Unter den Bedingungen weltweiter Informations- und Kommunikationssysteme kommt es zu einer rasanten Beschleunigung der Globalisierung von Markten. Talente und Begabungen nicht nur in IT-Berufen werden zu einer weltweit knappen Ressource, um die Unternehmen konkurrieren. Komplexitatsmanagement wird zum Wissensmanagement in der Informarionsgesellschaft. Kreativitatspotentiale sind der Kern der Wertschopfung von Unternehmen in der Wissensgesellschaft. Die Herausforderung der Zukunft im Management ist daher der Wandel vom Industriemanagement zum Komplexitats- und Wissensmanagement und schlie?lich zum Kreativitatsmanagement. Komplexitatsmanagement ist dann erfolgreich, wenn wir die nichtlineare Dynamik komplexer Systeme verstehen. Fur ein Unternehmen gilt daher herauszufinden, wieweit es sich in die Nahe von Instabilitaten bewegen sollte, um Innovationsschube auszulosen und das Abgleiten ins Chaos zu vermeiden. Fur ein Unternehmen gilt es daher herauszufinden, wieweit es sich in die Nahe von Instabilitaten bewegen sollte, um Innovationsschube auszulosen und das Abgleiten ins Chaos zu vermeiden. In der Theorie komplexer dynamischer Systeme lassen sich globale Trends durch wenige statistische Verteilungsgro?en (,Ordnungsparameter') modellieren. Wir mussen z. B. nicht das tatsachliche Mikroverhalten jedes einzelnen Autofahrers kennen, um fur bestimmte Verkehrsdichten ein Makroverhalten wie Stop-and-Go-Wellen oder Verkehrsinfarkt voraussagen zu konnen. Intelligente Verkehrsleitsysteme mussen lernen, solche Trends rechtszeitig aus Dichtemustern zu erkennen und sich dem Verkehrsfluss anzupassen. Ebenso muss intelligentes Management lernen, mit Instabilitaten sensibel umzugehen und geeignete Rahmenbedingungen zu setzen, damit sich eine gewunschte Geschaftsdynamik selbst organisiert. Unternehmen sind aber, so wird man einwenden, Systeme von Menschen mit Gefuhlen und Bewusstsein, keine willenlosen Atome oder Molekule. Allerdings entstehen auch in sozialen Gruppen globale Meinungstrends einerseits durch kollektive Wechselwirkung ihrer Mitglieder (z.B. Kommunikation). Andererseits wirken globale Trends auf die Gruppenmitglieder zuruck, beeinflussen ihr Mikroverhalten und verstarken oder bremsen dadurch die globale Systemdynamik. Solche Ruckkoppelungsschleifen (�Feedback') zwischen Mikro- und Makrodynamik eines Systems ermoglichen erst Lerneffekte im Unternehmen wie z.B. antizyklisches Verhalten, um bewusst schadlichen Trends entgegenzuwirken. Wenn Unternehmen als lernende und sich selbst organisierende komplexe dynamische Systeme verstanden werden, dann zeichnen sich erste Konturen eines Mitarbeiterprofils ab. Angesichts der nichtlinearen Dynamik von Menschen, Unternehmen und Markten ist der Laplacesche Geist eines linearen Managements und Controllings ebenso zum Scheitern verurteilt wie die Unterstellung rationalen Verhaltens im Sinne des homo oeconomicus. Menschen handeln weder vollstandig rational noch vollstandig irrational. In unsicheren und unubersichtlichen Informationsraumen entscheiden sie auf der Grundlage beschrankter Rationalitat (vgl. Simon 1982). Sie filtern fuzzy Informationen mit beschrankten Sinnesorganen und kognitiven Fahigkeiten, bewerten Situationen auf der Grundlage von Motivationen und Emotionen, erganzen und verstarken ihre Fahigkeiten im Team. Lern- und Kommunikationsfahigkeit, Sensibilitat und Sozialitat machen uns nach wie vor einem Supercomputer uberlegen, der mit noch so gro?er Rechen- und Speicherleistung der Komplexitat moderner Lebenswelt nicht gewachsen ist. Personalarbeit der Zukunft sollte daher diese naturliche Anlage von Menschen verstarken und nicht durch falsche Rationalitatsmodelle vergewaltigen. Weltweite Informations- und Kommunikationsnetze beschleunigen die Globalisierung und steigern damit Komplexitat. Die Rede ist von Teleworking, Telebanking und Teleshopping in virtuellen Markten, Firmen, Banken und Kaufhausern, die Raum und Zeit uberwinden. Mit Internet und World Wide Web leben und arbeiten wir bereits in virtuellen Netzwelten, in denen wir unser Wissen speichern, Innovationen planen, Geschafte tatigen, Entspannung und Unterhaltung suchen. Diese Computernetze sind offene und sich selbst organisierende komplexe Systeme mit Millionen von Kunden und Anbietern, deren nichtlineare Dynamik gesteigerte Informationsvielfalt, aber auch Informationschaos eroffnet. Wie zeichnet sich Wissen gegenuber Informationen, Nachrichten und Daten in Computernetzen aus? Das menschliche Gehirn codiert und decodiert nicht nur Zeichen und Daten bei der Nachrichtenubertragung, sondern bezieht sie auch auf Kontexte der Sender und Empfanger und verleiht ihnen dadurch Informations- und Neuigkeitswert. Vernetzen und gewichten wir Informationen, um damit Probleme losen und Handlungen planen zu konnen, sprechen wir von Wissen. Diese Auffassung von Wissen steht bereits in Bacon's beruhmten Motto am Anfang der Neuzeit: Wissen ist Macht. Tatsachlich verdankten traditionsreiche Unternehmen und Banken ihren Erfolg letztlich immer einem Wissensvorsprung, um schneller und gezielter als andere entscheiden und handeln zu konnen, wenn auch unter der Bedingung beschrankter Rationalitat. Produkte sind geronnenes Know-how und Produktmarkte damit auch immer Wissensmarkte. Dieser Trend wird durch Informations- und Kommunikationstechnologien beschleunigt. In der traditionellen Industriegesellschaft bestimmen Rohstoffe, Fabriken, Waren und Markte den Wirtschaftsprozess. In einem rohstoffabhangigen Unternehmen wird daher die physische Wertschopfungskette von der Innovation uber Produktionsablaufe und Marketing bis zum Verkauf und Kunden effektiv gestaltet. Mit Hilfe leistungsstarker Computer- und Informationssysteme lassen sich die komplexen Organisations-, Beschaffungs- und Verteilungsprobleme nicht nur besser uberschauen, sondern die Informationsverarbeitung dieses Wissens erzeugt auch einen zusatzlichen Wert. Beispiele sind Automobilunternehmen, die ihre Produktentwicklung an virtuellen Prototypen in Computernetzen mit weltweit verstreuten Konstrukteuren und Marketingexperten betreiben. Softwarehauser, Direct Marketeers, Finanzdienstleister und Versicherer kommunizieren mit ihren Kunden im Netz und schaffen mit ihren Datenbanken neue Produkte und Leistungen. In der Wissensgesellschaft sind die physischen Wertschopfungsketten (z.B. eines Automobilkonzerns) zusatzlich mit solchen virtuellen Wertschopfungsketten vernetzt. Know-how und Beratung werden als Wissensprodukte im Netz angeboten. Im Electronic Commerce werden Anbahnung, Aushandlung und Geschaftstransaktionen virtuell realisiert. Globalisierung der Informations- und Wissensgesellschaft fuhrt zum Wettbewerb der Standorte um bessere Industrien, Zukunftssicherung und Lebensqualitat. Weltweite Informations- und Kommunikationsnetze machen einen Just-in-time-Vergleich der Vor- und Nachteile landerubergreifend moglich. Standorte sind durch Menschen mit ihrer Ausbildung, ihrem Know-how, ihrer Lebens- und Berufseinstellung, durch Bauten, Anlagen und Maschinen, durch Verwaltungen und Organisationen und nicht zuletzt durch politische Rahmenbedingungen bestimmt. Dabei sind mobile von immobilen Standortfaktoren zu unterscheiden. Im Industriezeitalter galten die meisten Standortfaktoren als immobil. Bauten, Anlagen Maschinen und weitgehend auch Menschen konnten nicht verpflanzt werden. Entscheidend waren immobile Standortfaktoren wie geographische und klimatische Bedingungen und vor allem Rohstoffe und Produktionsfaktoren vor Ort. Demgegenuber sind Information und Wissen mobile Standortfaktoren. Ihre Transportkosten werden mit den wachsenden Informations- und Kommunikationsnetzen immer billiger. Der Geist wehte schon immer, wie er will, wo er will und wann er will. Informations- und Kommunikationsnetze machen aus dieser Weisheit eine wirtschaftlich messbare Wertschopfung. Der Markt wird zum Entdeckungsverfahren fur gunstige Standorte, die sich in den weltweiten Kommunikationsnetzen wie in einem globalen Dorf (Global Village) blitzschnell herumsprechen. Bei der Wertschopfung der Wissensgesellschaft geht es aber nicht um die Informations- und Kommunikationsnetze selber, sondern um das Wissen und Know-how, das in diesen Netzen entwickelt wird und sie erst moglich macht. Es geht also um den Ideenproduzenten Mensch. Hier boomen die Wissensmarkte der Hochschulen und Weiterbildungszentren. Von Seiten der Unternehmen konkurrieren Personalarbeiter um den Rohstoff Geist, der in Deutschland nicht nur im IT-Bereich mittlerweile ein knappes Gut ist. Personalarbeit in der Wissensgesellschaft steht also im Zentrum der Untemehmenswertschopfung. Wenn Unternehmen und Verwaltungen als lernende und sich selbst organisierende komplexe dynamische Wissenssysteme verstanden werden, dann bedarf es anderer Mitarbeiter als in starren mechanischen Apparaten mit festen Funktionszuschreibungen. Ihre Kreativitatspotentiale zu finden ist Aufgabe einer Personalarbeit der Zukunft. In der Kreativitatsforschung wird heute die Verbindung von Denken, Handeln, Imagination, Phantasie und Fuhlen betont. Tatsachlich weist die Gehirnforschung nach, dass entsprechende Gehirnareale eng vernetzt sind. Der �kuhl' und emotionslos kalkulierende Manager ist daher eher ein mentaler Kruppel als ein Vorbild an Rationalitat. Emotionen motivieren uns zu handeln oder mahnen zur Vorsicht, wenn uns Situationen an gute oder schlechte Erfahrungen erinnern. Wenn erfolgreiche Manager aufgrund eines �guten' oder �schlechten' Gefuhls intuitiv entscheiden, dann stehen sie in der Tradition dieses Evolutionserbes. Verbunden mit einem reichen Schatz an komplexen Erfahrungsmustern, die mit der aktuellen Situation verglichen werden, ist diese Art der emotionalen Intelligenz jedem Supercomputer oder Planungsstab uberlegen, der alle Details und Optionen vollstandig erfassen, berechnen und optimieren will. Mustererkennung mit dem Blick fur das Wesentliche bei gleichzeitiger Fehlertoleranz im Detail ist die starke Leistung von komplexen neuronalen Netzen wie dem menschlichen Gehirn. Emotionale Intelligenz bedeutet aber auch, dass Arbeit Spa? machen muss. Wer Mitarbeiter emotional nicht erreicht, wird ihre Kreativitat nicht wecken konnen. Da Personalarbeit von Menschen geleistet wird, findet auch sie unter den Bedingungen beschrankter Rationalitat statt. Ihre Wahrnehmungs- und Bewertungsraster sind beschrankt und fuzzy. Fahigkeiten und Anlagen von Mitarbeitern bleiben verborgen und werden nicht erfasst. Haufig beschrankt sich Personalarbeit auf das explizite und deklarierte Wissen von Mitarbeitern, das in Tests und Leistungsbilanzen (z.B. Zeugnissen) erfasst ist. Dabei bleibt das implizite und prozeduale Wissen ausgeblendet, das erst im Arbeits- und Problemlosungsprozess im Team beobachtbar ist. Das Top-Management, in dem die Unternehmensziele und Strategien formuliert werden, ist von dieser Basisperspektive haufig zu weit entfernt. Andererseits bedarf es einer Vermittlung des strategischen Unternehmenswissens mit dem Wissen und Konnen des Mitarbeiterteams. Personalarbeit sollte daher als Wissensbroker zwischen dem Top-Management nd den Arbeitsteams angesiedelt sein (middle-up-down management), um den Wissenstransfer im Unternehmen zu optimieren. Da Personalarbeit Teil des lernenden Unternehmens ist, muss auch sie ihre Wahrnehmungs- und Bewertungskriterien standig uberprufen. Welche Kriterien sind anzuwenden, wenn ein Unternehmen als lernendes und sich selbst organisierendes komplexes dynamisches Wissenssystem verstanden wird? Wissen bedeutet vor allem Problemlosungskompetenz. Dazu gehoren Problemerkennung und -strukturierung, Kreativitat und innovatives Denken, Einordnung von gefundenen Losungen in Gesamtzusammenhangen des Unternehmens. Unter den Bedingungen von Komplexitat und Selbstorganisation steigt die Kompetenz eines Mitarbeiters, je mehr er selbstandig neue und auch ungewohnliche Losungen von komplexen Fragestellungen anzugeben in der Lage ist. Unter den Bedingungen von Komplexitat und Globalisierung wird Interdisziplinaritat ein zentrales Kriterium des Wissensmanagement. Mitarbeiter und Manager von Unternehmen erhalten unter der Bedingung von Komplexitat keine sauberlich getrennten Fachprobleme des Marketings, Finanzwesens, der Produktion, Logistik oder Personalfragen zugeteilt. Sie werden mit vernetzten Problemen einer komplexen Unternehmenswirklichkeit konfrontiert, fur die facherubergreifendes Denken notwendig ist. Gemeint ist nicht der schale Dunnbrettbohrer, der von allem nichts versteht. Gemeint ist die/der Fachfrau/Fachmann fur z.B. Finanzfragen, die/der die Zusammenhange mit anderen Unternehmensaspekten versteht und im Team berucksichtigen kann. Im modernen Management ist daher Systemdenken und -verstandnis, d.h. das Denkenkonnen in komplexen dynamischen Systemen unabdingbar. Projektorientierte und fachubergreifende Modellierungen setzen ein grundliches Basiswissen systemischen Arbeitens voraus. Das wird sich als Ausbildungsvorteil in der globalisierten Wissensgesellschaft erweisen. Der angebliche deutsche Hang zur Grundlichkeit hatte nichts mehr mit der im 19. Jahrhundert belachelten Lufthoheit der deutschen Philosophen uber den Wolken zu tun, sondern mit einer Fahigkeit, die sich als Wertschopfung auszahlt. Bei den immer schneller werdenden Innovationszyklen in der Wissensgesellschaft sind die Losungen von heute bereits morgen schon uberholt. Basiswissen systemischen Denkens versetzt in die Lage, sich immer wieder neu in Problemlosungen einzuarbeiten. Konkretes Beispiel: Der heute international nachgefragte Spezialist fur Java-Programme kann morgen bereits uberholt sein, der Informatiker mit grundlicher und breiter Basisausbildung nicht. Im Zeitalter der Globalisierung kommen interkulturelles Verstandnis und Erfahrung hinzu. Sensibilitat fur unvorhergesehene Kulturprobleme werden nicht allein durch Fremdsprachenkurse, sondern durch interkulturelles Wissen und Erfahrung erreicht. In international agierenden Unternehmen gehort interkulturelles Verstandnis mit zur Sozialkompetenz, die fur heutige Teamarbeit unabdingbar ist. Unternehmen sind nicht nur lernende komplexe und dynamische Wissenssysteme, sondern soziale Organisationen von Personen. Mit wachsender Mobilitat und Dynamik, unter den Bedingungen labiler und instabiler Gleichgewichte am Rande des Chaos bedarf es zudem langfristiger Orientierungen und Werte uber den Tag hinaus. Wertorientierung muss zwar ebenfalls standig uberpruft werden. Aber ohne Werte gibt es kein Verantwortungsbewusstsein, das fur andere eintritt, keine Fuhrungsqualitaten, die durch Vorbild uberzeugen. Unternehmen sind daher auch immer Wertgemeinschaften, die uber die Shareholder-Value- Mentalitat hinausgehen mussen. Management der Zukunft fuhrt also vom Komplexitats- und Wissensmanagement zum Kreativitatsmanagement. Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt nichtlinearer Unternehmensdynamik und tragt seiner Natur Rechnung. Das gelingt nur, wenn Personalarbeit der Zukunft auf den Ergebnissen von Kognitions- und Systemforschung, Philosophie und Ethik aufbaut. Nur so fordert sie die Kreativitatspotentiale des Unternehmens und tragt zu seinem Erfolg bei.
Lander und Nationen sind komplexe Systeme, die den Gesetzen nichtlinearen Dynamik folgen. Ihre Geschichte la?t sich als Phasenubergange verstehen, die an Instabilitatspunkten in neue Ordnungen umschlagen, die wiederum instabil werden konnen, um neuen Ordnungen Platz zu machen. Nichtlineare Dynamik bedeutet, dass wir diese Prozesse nicht in allen Details zentral steuern konnen. Wir mussen also rechtzeitig die Instabilitatspunkte und mogliche Ordnungsparameter erkennen, die globale Trends dominieren konnten. Sensibilitat fur die empfindlichen Gleichgewichte nichtlinearer Dynamik reicht aber nicht aus. Wir konnen nichtlineare Dynamik durchaus beeinflussen. Wenn wir nicht handeln, werden wir von der Eigendynamik komplexer Systeme uberrollt. Am Rande des Chaos sind zwar Sensibilitat gefragt, aber auch Mut und Kreativitat zur Problemlosung. Ein kurzer Blick auf die Geschichte Ru?lands und Europas bestatigt diese Analyse nichtlinearer Dynamik. Nachdem die mittelalterliche Ordnung in Europa zusammengebrochen war, herrschte das Chaos des Drei?igjahrigen Krieges. Unter diesem Eindruck beschrieb der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1678) den naturlichen Urzustand einer Gesellschaft als den Krieg aller gegen alle. Jeder ist nur an seinem Uberleben interessiert. Daher schlug Hobbes einen Phasenubergang zu einer neuen gesellschaftlichen Ordnung vor, bei dem jeder Burger seine Freiheiten an einen absoluten Staat ("Leviathan") abgibt, um einen absoluten Gleichgewichtszustand der Stabilitat und Sicherheit zu erreichen. Hobbes stellte sich diesen Phasenubergang als einen Sozialvertrag der Burger mit dem Staat vor. Nach dem Vorbild der Mechanik sollte der Staat eine perfekte und zentral gesteuerte Maschine sein, die sich durch die Versorgung und den Schutz der Burger legitimiert. Im Zeitalter des Absolutismus werden im Europa des 17. und 18. Jahrhundert tatsachlich solche Staaten geschaffen. Ich erinnere an die gro?e Epoche Ru?lands von Zar Peter dem Gro?en bis zu Katharina der Gro?en, die einen modernen zentralistischen Verwaltungsstaat schufen und sich von den besten Gelehrten Europas beraten lie?en. Das passende Wirtschaftsmodell zu diesen absolutistischen Regimen entwarfen die franzosischen Okonomen der physiokratischen Schule. Nach dem Vorbild der cartesianischen Mechanik sollte das okonomische System wie ein Uhrwerk funktionieren. Die Landwirtschaft, die treibende Kraft der physiokratischen Okonomie ist, wird mit den Gewichten einer Uhr verglichen. Okonomische Produktion wird als zusammengesetzte mechanische Bewegung gedeutet. Die Verteilung des Profits zwischen den gesellschaftlichen Klassen geschieht nach einem zentralen Plan (Tableau economique). Der absolutische Staat und die absolutische Wirtschaft ist sicher ein Fortschritt gegenuber der vorausgehenden Phase des Mittelalters. Sie entsprechen dem linearen Denken der cartesianischen Physik. Ende des 18. Jahrhunderts werden diese Regime instabil. In der franzosischen Revolution bricht der Absolutismus zusammen. Der Sturm auf die Bastille ist der lokale Schmetterlingseffekt der nichtlinearen Dynamik, der die globale europaische Geschichte erschuttert. Kant und Hegel feiern die franzosische Republik als neue Phase der burgerlichen Weltgeschichte. Die Verfassung der Menschenrechte sollte die Freiheitsrechte der Burger garantieren. Zu den burgerlichen Freiheiten treten die okonomischen Freiheiten, die Adam Smith in seinem liberalen Modell der freien Marktwirtschaft beschreibt. Das Gleichgewicht der politischen und okonomischen Krafte wird also durch Selbstorganisation erreicht. Die Verfassung soll das freie Spiel der Krafte garantieren. Die burgerliche Gesellschaft wird buchstablich als Fixpunktattraktor der Weltgeschichte betrachtet, in der die Dynamik in ein Gleichgewicht des Wohlstands, des Friedens der Volker und der Wohlfahrt geraten sollte. Das war die Illusion der Theoretiker der burgerlichen Gesellschaft. Nichtlineare Dynamik hochkomplexer offener Systeme kennt kein finales Gleichgewicht. Marx erwartete folgerichtig den nachsten Phasenubergang in den okonomisch hochentwickelten burgerlichen Gesellschaften wie Frankreich und England. Unter den Bedingungen des 1. Weltkrieges brach aber uberraschenderweise das absolutistische Regime in Ru?land zusammen. Der Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg war der lokale Schmetterlingseffekt, der globale Weltgeschichte machen sollte. Tatsachlich wurde er auch von einer Minderheit (Bolschewiken) ausgelost, die das gesamte System Ru?lands dominieren sollte ("Diktatur des Proletariats"). Der Leninismus wird zum neuen Ordnungsparameter dieses riesigen Landes. Ein absolutistischer Agrarstaat sollte in kurzester Zeit in einen modernen sozialistischen Industriestaat transformiert werden, ohne die burgerliche Phase durchlaufen zu mussen. Die Avantgarde einer Partei sollte dazu den Masterplan entwickeln. Wer die nichtlineare Dynamik hochkomplexer Systeme kennt, wei?, dass sich Phasenubergange nicht zentral steuern lassen. Es erinnert an Platons Illusion von den Philosophenkonigen, die alles wissen und daher das Gute schaffen wollen. Vom Standpunkt der Informatik wissen wir, dass kein einzelner Prozessor komplexe Computer-, Informations- und Kommunikationsnetze steuern kann. Kein menschliches Gehirn vermag den nichtlinearen Informationsflu? eines solchen hochdimensionalen komplexen Systems zu erfassen. Wir konnen nur Nebenbedingungen schaffen, damit sich gewunschte Attraktoren selber entwickeln. Aus der Konfrontation der burgerlich-liberalen und sozialistischen Gesellschaftssysteme entwickelte sich nach dem 2. Weltkrieg ein weltweit bipolares Gleichgewichtssystem. Gelegentlich wird es als Gleichgewicht des Schreckens bezeichnet, da sich zwei atomar hochgerustete Blocke gegenuber standen. Vom Standpunkt nichtlinearer Dynamik war dieses System aber durchaus stabil, solange sich jeder an die Spielregeln hielt. Wir erinnern uns alle noch an die Instabilitatspunkte (z.B. Kuba-Krise, Berlin-Krise), als lokale Fluktuationen drohten, globale Wirkungen auszulosen und in einen atomaren Chaosattraktor zu laufen. Viele lokale Konflikte mit Millionen von Toten, die heute die Welt erschuttern, blieben den Menschen aber erspart. Insbesondere blieben die vielen lokalen ethnischen, nationalen und religiosen Konflikte von heute domestiziert. Das Gleichgewicht de Schreckens hatte also auch Vorteile. Die nichtlineare Dynamik intelligenter Menschen la?t sich aber nicht in abgeschlossenen Systemen isolieren. Die modernen Informations- und Kommunikationssysteme weckten Hoffnungen und Wunsche, die eine starke Eigendynamik entwickelten. Verbunden mit gro?en okonomischen Problemen destabilisierte sich Ende der 80er Jahre das bipolare Gleichgewicht in rasantem Tempo, ohne dass es viele Politiker rechtzeitig erkannten. Vom heutigen Standpunkt aus halt man noch den Atem an. 1989 hatte die Welt in eine atomare Katastrophe steuern konnen. Tatsachlich erlebten wir, wie dieses Gleichgewichtssystem in einem friedlichen Phasenubergang implodierte. Die Gewichte ordneten sich seitdem neu und es entstand die russische Foderation und das neue Europa. Nach meiner Auffassung ist es vor allem das gro?e Verdienst Ru?lands, diesen friedlichen Ubergang in Europa ermoglicht zu haben. Fur die Ordnungsmacht des Ostblocks ware auch ein anderer Weg denkbar gewesen. Dieses Land, das wie kein anderes mit Millionen Toten unter den Folgen des 2. Weltkriegs gelitten hatte, wahlte den Weg des Friedens und bezahlte dafur einen hohen Preis. Daran sollte sich das neue Europa erinnern, die Partnerschaft mit Ru?land suchen, um die gefahrlichen Irrtumer der europaischen Geschichte zu vermeiden. Die Partnerschaft zwischen Ru?land und Europa wird um so dringender, da beide Systeme vor derselben Herausforderung stehen. Gemeint ist die Globalisierung. Das ist das gewaltigste komplexe dynamische System, das die Weltgeschichte bisher hervorgebracht hat. Es ist eine multipolare Nichtgleichgewichtsdynamik, die an die Stelle der bipolaren Gleichgewichtsdynamik getreten ist. An die Stelle des einen dominierenden Ost-West-Konflikts treten viele lokale Konfliktherde, die sich jederzeit in globale Katastrophen verwandeln konnen. Das Gleichgewicht des Schreckens wurde durch den Schrecken des Ungleichgewichts ersetzt! Die Welt nach 1989 ist hoch komplex. Unter dem Gesichtspunkt der Sicherheitspolitik ist sie unubersichtlicher und daher auch gefahrlicher als vorher. Der internationale Terrorismus ist eine Folge der Nichtgleichgewichtsdynamik. Kein Land sollte sich daher einbilden, die neue Ordnungsmacht in diesem komplexen dynamischen System der Globalisierung werden zu konnen. In einer nichtlinearen Dynamik ware es ein schwerer mathematischer Fehler, spieltheoretisch von einem Nullsummenspiel auszugehen, in dem der Gewinner allen Nutzen auf Kosten des Verlierers erhalt. In nichtlinearer Dynamik hangt alles mit jedem zusammen. Globalisierung meint aber vor allem die nichtlineare Dynamik weltweiter Marktsysteme, ihre entfesselten okonomischen Krafte und die damit verbundenen sozialen Verwerfungen. Das la?t sich bereits im neuen Europa studieren. Im Unterschied zu Ru?land ist das neue Europa keineswegs ein Staat, sondern nur eine Wirtschafts- und Wahrungsunion von 25 Landern mit sehr unterschiedlichen okonomischen und sozialen Entwicklungsstandards. Die Politik hat fur dieses komplexe System die Nebenbedingungen geschaffen und hofft, dass sich diese Unterschiede in langfristigen Phasenubergangen ausgleichen. Wie das Beispiel Deutschlands zeigt, wird dieser Prozess Generationen brauchen: Die ursprungliche Vorstellung, das Ost- und Westdeutschland okonomisch in wenigen Jahren zusammenwachsen, hat sich als Illusion erwiesen. Die Entwicklung Deutschlands wird auch in Zukunft durch die gewaltigen Kosten des Vereinigungsprozesses gebremst sein. Synergetische Effekte nichtlinearer Dynamik mussen bezahlt werden. Demgegenuber ist Ru?land eine historisch gewachsene Nation von der Gro?e eines Kontinents, die keineswegs auf Europa beschrankt ist. Ru?land ist auch eine fuhrende Ordnungsmacht in Asien. Die Einheit dieses riesigen Landes kostet einen gewaltigen Preis. Einheit und Gro?e bedeuten aber auch Zuwachs an Komplexitat. Die gemeinsame gro?e Herausforderung Ru?lands und Europas hei?t daher Komplexitat. In Brussel konnte eine aufgeblahte Burokratie heranwachsen, die versucht, alles und jedes in den vielfaltigen Regionen und Landern der Europaischen Union zu regularen. Am Ende wurde die Entwicklung der Regionen behindert und Ressourcen durch den Zentralismus vernichtet. Auch hier gilt die Einsicht, das Information und Wissen in hochdimensionalen komplexen Systemen sich nicht zentralisieren und konzentrieren lassen. Management von Unternehmen, Verwaltungen und Politik handeln in komplexen dynamischen Systemen immer unter den Bedingungen beschrankter Rationalitat. Das Wissen vor Ort, wo die Probleme sind, ist gro?er als in der Zentrale. Der europaische Foderalismus ist daher auch eine Chance. Es gilt das Subsidiaritatsprinzip. Danach hilft jede Region sich selbst. Die ubergeordnete Ebene greift erst ein, wenn sich die untergeordnete Ebene nicht mehr selber helfen kann. Jeder Organismus ist nach diesem hierarchischen Controling-System organisiert. Dabei sollten moglichst "flache" Hierarchien eingerichtet werden: Nur soviele Instanzen wie notig, um Komplexitatskosten zu sparen. In Unternehmen lassen sich Komplexitatskosten messen und in allen Abschnitten der Wertschopfungskette nachweisen. Das gilt naturlich auch fur die Europaische Union (EU) und die Verwaltungssysteme in Ru?land. So gibt es Komplexitatstreiber und Komplexitatsfallen, in die Verwaltungen und Unternehmen geraten konnen. Dazu gehort die Verzettelung in Sortiments-, Varianten-, Auftrags-, Kunden- und Teilevielfalt. In Deutschland haben wir das Phanomen des Overengineering zu komplexer technischer Gerate, die teuer sind und nicht funktionieren. Ein anderes Problem in Deutschland ist die Uberregulation durch ein zu komplexes Steuersystem, das Investoren abschreckt, aber auch Burger belastet. Instabilitat werden durch Nachfrageschwankungen und Planungsungenauigkeit hervorgerufen. Qualitatsmangel erfordern Nacharbeiten und Fehlerbehebungen und steigern damit Kosten. Komplexitatstreiber fuhren also zu unkontrollierbarem Kostenanstieg und Schwachung der Wettbewerbsposition. Daher bedarf es Fruhwarnsysteme (Controling), um nicht in den chaotischen Attraktoren der Komplexitatsfallen zu enden. Die Globalisierung stellt alle Lander und Nationen unter unterschiedlichen Nebenbedingungen vor ahnliche Probleme. Unter der nichtlinearen Dynamik freier Markte arrangieren sich die Unternehmen weltweit neu. Die Nationalstaaten geraten in eine Nebenrolle. In der EU verlagern z.B. deutsche Unternehmen ihre Produktion im Moment nach Tschechien oder Polen, weil dort Arbeitskrafte so hochqualifiziert wie in Deutschland, aber beliebiger sind. Das kann sich aber bald schon andern. Unter den Bedingungen billiger Transport- und Kommunikationskosten ist eine Verlagerung nach Asien der nachste Schritt. Der Nationalstaat gerat in eine Nebenrolle und hat nur noch gegen die sozialen Verwerfungen mit immer weniger Mitteln zu kampfen, die durch Auswanderung globaler Konzerne entstehen. Die richtige Analyse und Diagnose von Karl Marx an den sozialen Folgen der okonomischen Nichtgleichgewichtsdynamik la?t sich also unter den Bedingungen der Globalisierung fortsetzen. Wir durfen nur nicht die falschen Therapien von damals ubernehmen. Die Selbstorganisation der Markte kann zu sozialen Verwerfungen ("Ausbeutung") und damit Instabilitat fuhren. Aus dieser Einsicht ist aber auch die Motivation gewachsen, Vorbeugungen gegen die Ausbeutung zu treffen. Dazu gehoren ein soziales Netz fur Schwache, Wettbewerbsgesetze und Beteiligung der Wohlhabenden an der Finanzierung des Wohlfahrtstaates. Gerade weil die Nationalstaaten die Marxsche Warnung Ernst nahmen, intervenierten sie, um wachsende Wohlstandsunterschiede zu verhindern und Stabilitat des Systems zu erreichen. Allerdings kann der Wohlfahrtsstat auch zu einer Komplexitatsfalle werden, wie wir soeben in Deutschland erleben. Um die Komplexitatskosten staatlicher Regulierung zu reduzieren, mussen Burger in die Lage versetzt werden, starker selber fur ihre soziale Zukunftssicherung zu sorgen. Durch geeignete Steuersysteme mussen dazu aber zunachst die Nebenbedingungen geschaffen werden. Dieser Phasenubergang la?t sich derzeit in Deutschland beobachten. Die Weltwirtschaft
steht vor einer ahnlichen Situation. Ihre nichtlineare Dynamik braucht
Rahmengesetze, damit die okonomische Selbstorganisation nicht zur Verelendung
von einigen Landern, kontinenten und Bevolkerungsschichten fuhrt. Mit
Global Governance werden diese weltweite Rahmenbedingenen beschrieben,
um die Selbstorganisation globaler Markte in gewunschte Bahnen zu lenken.
Die entsprechenden Infrastrukturen und Instrumente wie UN, Weltbank und
supranationale Vereinigungen sind leider erst im Ansatz vorhanden. Weltweiter
Zentralismus ware eine fatale Illusion, weltweiter Foderalismus und Regionalismus
wunschenswert. Kritiker verbinden die Globalisierung mit dem Recht der
Gro?en, die Kleinen auszubeuten. Sie sehen instabile Finanzmarkte, eine
ungleiche Einkommensverteilung, weniger Rechte fur den Einzelnen. Daran
sind die okonomischen Gesetze nichtlinearer Dynamik ebensowenig "schuldig" wie die Gravitationsgesetze fur einen Kometeneinschlag. Wir sind aber
verantwortlich, wenn wir die falschen Signale und Nebenbedingungen der
okonomischen Selbstorganisation setzen.
Die Theorie komplexer dynamischer Systeme ist eine interdisziplinare Methodologie zur Modellierung nichtlinearer Prozesse in Natur und Gesellschaft. Diese Perspektive nenne ich den �dynamical view' der Welt. Sie ist die wissenschaftstheoretische Antwort auf die zunehmende Komplexitat, Empfindlichkeit und Unubersichtlichkeit der modernen Lebenswelt des Menschen. Als Beispiele seien die Herausforderungen der Globalisierung, von Umwelt und Klima, Life Sciences und Informationsflut genannt. Veranderungen, Krisen, Chaos, Innovations- und Wachstumsschube werden durch Phasenubergange in kritischen Zustanden modelliert. Ziel sind Erklarungen und Prognosen dieser Prozesse. In Zeitreihenanalysen mussen dazu Phasenraume und Attraktoren aus Me?werten rekonstruiert werden. Die damit verbundenen Probleme der Me?auswertung und Diagnose sind eine gro?e Herausforderung fur die Technik. Haufig reichen Computersimulationen, bei denen Algorithmen und Programme an die Stelle von Gleichungen dynamischer Systeme treten. In diesem Fall spreche ich vom �computational view' der Welt. In einer Komplexitatsanalyse sind Leistungsfahigkeit, Aufwand und praktische Beschrankungen dieser Modelle zu bestimmen. Die Zukunft ist langfristig nicht vorausberechenbar, aber Trends (Ordnungsparameter) ihrer Dynamik erkennbar und beeinflu?bar. Ebensowenig wie die lineare Kausalitat des Laplaceschen Geistes ausreicht, gelingt es dem homo oeconomicus, unter den Bedingungen vollstandiger Information vollstandige Rationalitat zu realisieren. Entscheidungsverhalten findet unter den Bedingungen von Komplexitat statt. Ihre nichtlineare Kausalitat erlaubt nur beschrankte Rationalitat. Lineare Kausalitat ist ebenso wie die klassische Mechanik und Okonomie eine begriffliche Fiktion, die bestenfalls Naherungen erlaubt. Selbstorganisation fuhrt zur Emergenz neuer Phanome, die auf neuen Stufen der Evolution auftreten. Selbstorganisation ist notwendig, um die zunehmende Komplexitat dieser Entwicklung zu bewaltigen. Sie kann aber auch zu unkontrollierbarer Eigendynamik und Chaos fuhren (vgl. Chaostheorie). In komplexen dynamischen Systemen (z.B. Organismen) bedarf es daher auch Monitoring und Controlling auf hierarchischen Systemstufen. Das gilt auch fur soziale und okonomische Systeme. Es gibt (noch?) keine abschlie?ende nichtlineare Systemtheorie. Wir kennen nur Teile von biologischen, neuronalen, kognitiven und sozialen Systemen im Rahmen einer allgemeinen Theorie komplexer dynamischer Systeme. Aber auch z.B. in der Physik gibt es noch keine abschlie?ende Theorie physikalischer Krafte. Dennoch wird damit erfolgreich gearbeitet. Um mehr daruber zu erfahren, bedarf es der interdisziplinaren Zusammenarbeit von Computer-, Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Ziel sind selbstorganisierende Systeme und Infrastrukturen als Dienstleister fur uns Menschen, die helfen, eine immer komplexer werdende Welt zu bewaltigen und lebenswerter zu gestalten. Literaturhinweise H. Haken/ A. Mikhailov (Hrsg.), Interdisciplinary Approaches for Nonlinear Complex Systems, Springer 1993; K. Mainzer, Thinking in Complexity. The Computational Dynamics of Matter, Mind, and Mankind, 4. erweiterte Aufl. 2004; K. Mainzer, KI - Kunstliche Intelligenz. Grundlagen intelligenter Systeme, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003; K. Mainzer (Hrsg.), Komplexitat und Nichtlineare Dynamik in Natur und Gesellschaft, Springer 1999; K. Mainzer, A. Muller, W.G. Saltzer (Hrsg.), From Simplicity to Complexity: Information, Interaction, Emergence, Vieweg 1998; K. Mainzer, Komplexitat in der Natur, in: Nova Acta Leopoldina NF 76, Nr. 303, 165-189 (1997); W. Weidlich, Sociodynamics, Taylor & Francis 2002. |